Heft 
(1906) 43
Seite
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Persönlichkeit, ein einzelner im Leben und ein einzelner in der Kunst. Auch er konnte nur den unbotmäßigen, willensstarken Menschen brauchen, Menschen, die sich selbst ihr eigenes Gesetz gaben, nicht schwächlich nur von der Tradition sich leiten ließen. Und darum schuf er so souveräne und widersetzüche Charaktere wie seinen Siegmund, Helden, die selbst den Göttern Walhallas zu trotzen wagen und einzig um ihrer Liebe willen irdisches wie himmlisches Recht mißachten; bis dann der Parzival endlich die tiefere Idee auch des Mitleids ihm erschließen sollte. . . .

Jean Paul und Richard Wagner waren Künstler, Dichter; die Menschen lachten und weinten über ihre Werke, sie fühlten sich entzückt oder gedemütigt aber das schöne Vorrecht, das Phantasie nun einmal vor der rauhen Wirklichkeit zu haben scheint, ließ die tiefen Abgründe, an die wir auch hier schon streifen, kaum erblicken. Max Stirner indessen war Philosoph, Denker; und der Philosoph allein hat es mit der Wahrheit, der nackten, unverhüllten, zu tun. Und was beinahe noch schlimmer war: dieser Denker war ein Zu-Ende-Denker, einer von jenen, welche die gerade Linie der Kon­sequenz nicht scheuen und, wenn sie auch die alltäglichsten und durch Gewohnheit liebgewordenen Gefühle durchschneiden sollte, doch von ihrer Verfolgung und Weiterführung nicht abstehen zu dürfen glauben. Und so ist er, wie nun das allgemeine Urteil und nicht selten Ver­dammungsurteil lautet, zum ärgsten Skeptiker und Nihilisten selbst geworden; nichts soll er uns unangetastet gelassen haben, Recht, Staat und Eigentum soll er angegriffen ja, den Zauber der uneigennützigen Liebe und Barmherzigkeit verdächtigt haben. Die so sprechen und mit einzelnen Sätzen und Sätzchen belegen wollen, was innerhalb einer großen und komplizierten Geistesgeschichte eine ganz andere Beleuchtung gewinnt, verstehen es nicht, einen Strom bis zur Quelle zu verfolgen. Ich will versuchen, durch einen Blick in die Seele dieses Denkers ihn richtig erkennen zu lassen.

Die Geschichte des Denkens kennt den Zweifel in den aller­verschiedensten Formen. Frivole Skeptiker gab es, die aus den Trümmern unersättlicher Lebensgier das gescheiterte Wrack ent­täuschten Genusses zogen und ihren selbstverschuldeten Ekel am Leben für letztes Wissen und letzte Weisheit ausgaben. Aber es gab andern Zweifel. Der alte Kirchenvater Augustinus, bevor er zu einer höheren und geläuterten Gotteserkenntnis sich aufschwang, hatan allem gezweifelt"; der Vater der gesamten modernen Philosophie, Descartes, nannte seinen vorhergehendenZweifel an jeder und jeglicher Erkenntnis" geradezu die Brücke zu seiner Welt­anschauung. Der größte Vorläufer Kants, David Hrrme, zweifelte nur an einer letzten und abschließenden Erkenntnis, aber das positive Erfahrungswissen käme dadurch gerade zu größerem Recht. Nicht anders als aus einem heißen idealistischen Erkenntnisdrang ist auch nur die Skepsis Max Stirners zu verstehen; wir haben rührende Dokumente dafür. Das einzige größere Werk, das er geschrieben,Der Einzige und sein Eigentum", beginnt mit einer Schilderung der Lebensalter; wie erhaben wird da das Jünglings­alter geschildert, und wir haben Beweise, daß er sein eigenes charakterisiert:Den reinen Gedanken zutage zu fördern, oder ihm anzuhängen, das ist Jugendlust, und alle LichtgestalLen der Gedanken­welt, wie Wahrheit, Freiheit, Menschentum, der Mensch usw. er­leuchten und begeistern die jugendliche Seele."In der Geisterzeit (Jünglingszeit) wuchsen mir die Gedanken über den Kopf . . .; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie mich, eine schauervolle Macht ..." Und als er dann endlich zu der Mission kommt, die er alsMann" vollführen zu müssen glaubt, da ver­rät er den schmerzlichen Kampf und die schmerzliche Überwindung, die vorhergegangen, selbst in den naturalistischen Sehnsuchtslauten: Ein Ruck tut mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab, ein Aufspringen schleudert den Alp der religiösen Welt von der Brust, ein auf­jauchzendes Juchhe wirft jahrelange Lasten ab. Aber die ungeheure

Bedeutung des gedankenlosen Jauchzens konnte in der langen Nacht des Denkens und Glaubens nicht erkannt werden."

Die lange Nacht des Denkens und Glaubens": was war .denn geschehen? Es war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, da hatte Stirner noch zu den Füßen Hegels, des Gedankentitanen, gesessen. Aber das Zeitalter nach Hegel war ganz allgemein des philosophischen Spekulierens müde ge­worden, es sehnte sich wieder nach dem derb Greifbaren, und so näherte man sich der materialistischen Denkart. Und noch eins schien leider mit jenen höheren idealistischen Systemen Hand in Hand gegangen zu sein: die Reaktion unter Minister Altensteins Regime. Zu sehr hatte sich Hegel in seiner letzten Zeit dazu her­gegeben, staatliche Ordnungen, mochten sie wie damals ja oft

individueller Freiheitsberaubung auch noch so ähnlich sehen, durch begriffliche Begründung zu sanktionieren. Das alles rief nach seinem Tod (1830) denn bald die Erschütterer seines in sich be- wunderswerten Systems ans Werk; und einer der letzten war eben nun Max Stirner, zugleich der freieste und unerschrockenste allerdings. Vorher hatte David Strauß'Leben Jesu" eine freiere Auffassung des Gottesglaubens durch die stärkere Vermenschlichung Christi vor­bereitet; alsdann war Ludwig Feuerbach aufgetreten und hatte ge­lehrt, daß wir überhaupt nichts anderes vermöchten, als einem Idealbild des vollkommensten Menschen unsere Verehrung dar­zubringen. Ihn aber widerlegte gerade Stirner: in seinem oben­genannten Buch zeigt er, daß, wenn einmal die Straße so weit gegangen sei, der Einzelne überhaupt vor keinen Richterstuhl der Tradition gezogen werden dürfe und jeder Mensch nur auf die Entfaltung seines innersten Kerns, der eigenen individuellen Anlagen zu stellen sei. Und so ward Stirner der größte Individualist des Jahrhunderts.

Der Einzige und sein Eigentum": im Titel liegt der Gedanke des Werkes; was hat er zu bedeuten? Schon jetzt zeigt sich, wie leicht bei oberflächlichem Lesen Stirner Mißverständnissen ausgesetzt ist, schon durch seinen sprachlichen Ausdruck. Diesen jedoch hat er absichtlich ein wenig verschleiert, denn er schrieb vier Jahre vor dem Ausbruch der Revolution, in einer Zeit, wo die Zensur in höchster Blüte stand. DerEinzige" scheint also auf einen Besonderen, einen Erlesenen hinzudeuten, und weil nun Stirner das Wörtchen Ich immer groß schreibt, so lag der Vorwurf um so näher, er habe für sich alles Recht in Anspruch nehmen und in maßlosem Dünkel seine Freiheit und Unabhängigkeit von jedem Gesetz und jeder Schranke erklären wollen. Sobald man aber näher schaut, sieht man, daß Stirner mit dem Prädikateinzig" jede bewußt handelnde und bewußt denkende Person bezeichnet und damit sogar sehr glücklich den Ausgangspunkt wählt, um jede Person an ihre nur ihr zu­kommendeeinzige" Bestimmung im Universum zu erinnern. Denn

jeder Mensch ist von Natur etwas anderes, schon seine physiologische Wesenheit ist immer eine andere, und so kann es keine allgemeinen

Begriffe, kein allgemeines Maß geben, an dem der einzelne zu

messen ist. Statt dessen scheint den Menschen nichts so im Blut zu liegen wie ihre Dienstbarkeit; immer müssen sie sich vor etwas demütigen, vor dem Götzen eines Ideals niederknien, immer ihr Ich in einen höheren und einen niederen Teil zerlegen und auf diese Weise uneins mit sich selber werden! Mag dies Ideal, dieser Gott auch mit den höchsten Namen belegt werden, wieWahrheit", Glauben" usw. zu leicht läßt sich der einzelne doch von so allgemeinen Begriffen Hinreißen, hypnotisieren, und indem er vergißt, daß nur aus ihm selber jede Aufgabe kommen kann, wird gerade im Dienst solcher festgestempelten Heiligtümer der Mensch am ehesten zum Fanatiker. Dieses Hingerissenwerden aber, diese Hingebung an ein Fremdes gleiche im Prinzip durchaus der sinnlichen Leidenschaft; wie der Mensch unter der Herrschaft von Begierden sein wahres Ich wegwirft und preisgibt, so gibt er es auch unter der Herrschaft von gewissen Idealen preis, weil er sich im Grunde vor ihnen nur de­mütigt, sie anbetet! Erinn're sich doch statt dessen jeder seines wirklichen Ich, nämlich seines wirklichenEigentums"! Eigentum nennt Stirner alles dasjenige, was im Vermögen, in der Kraft eines jeden steht; starren, toten Besitz dagegen will er nicht anerkennen. Unser ewig schöpferisches Ich ist jederzeit auch unser höchstes Eigentum; aber was glaubt der Mensch grade mehr verbergen, verleugnen, ver­stecken zu müssen, als seine natürlichen, ichbefriedigenden Instinkte? Mit schonungsloser Feder deckt nun Stirner auf, wieviel Unwahrheit und Lüge doch im Grunde in allen unseren sogenannten Selbst­verleugnungen schlummere, und wieviel besser das Ich am Ende daran täte, einerseits seine angeborene Ichheit, seinen Egoismus, d. i. aber nur seineEigenheit" offen zu bekennen, andererseits sie aus ihrem schlechten Ruf endgültig zu erlösen, denn auch von Natur existiere die Liebe zum Nächsten, sei der Mensch auf den Menschen angewiesen!

Der Denker dieser Gedanken war äußerlich ein stiller, schlichter Mensch, dessen fast immer sich gleichbleibende Oberfläche nichts von dem verriet, was in der Tiefe gärte. Nur ein einziges Mal im Leben ist er ein wenig sichtbarer an die Öffentlichkeit getreten, als er nämlich dem Kreis derFreien" in Berlin sich anschloß, der in vormürzlichen Tagen eine gewisse Rolle spielte. In dieser Zeit erschien auch sein Buch, um einen Augenblick höchste Sensation zu erregen, während der Stürme von Achtundvierzig aber vergessen zu werden. Und Stirner selbst tauchte absichtlich unter; über kein Leben ist so viel Dunkel gebreitet, wie über das seine. Aber er mochte ahnen, daß der Zukunft erst seine Gedanken gehörten; in den neunziger Jahren ist ihm der pietätvollste Biograph erschienen, der Dichter John Henry Mackay. Und seitdem gehört Stirner zu den Unvergessenen!

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