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Doktor Dhales.
(2. Fortsetzung.) Novelle von A. No öl.
runo Bodenbauer lief in atenrloser Erregung den Weg, den er mit Lisbeth gekommen war, zurück bis zur Ringstraße und dann diese hinauf, denn sein und seines Vaters Heim lag in der Babenberger Straße.
Nicht das etwas barocke Benehmen des behäbigen Doktors hatte diesen Sturm in ihm aufgewühlt; seine eigenen Empfindungen waren es, die ihn vorwärts trieben, unaufhaltsam.
Was war ihm heute abend geschehen?
In der größten Hast eilte er die Treppen bis zu der im dritten Stock gelegenen Wohnung empor, denn dort oben wartete jemand, dem er sich mitteilen konnte, bei dessen
Erblicken seine innere Unruhe sich legen würde. Eilig trat
er in das Vorzimmer, das eine halbabgedrehte Gasflamme schwach erhellte. Bei dem Geräusch, das er machte, erschien in der Nebentür eine hagere ältere Frau, der die Kleider am Leibe schlotterten.
„Guten Abend, Frau Braun", grüßte Bruno flüchtig und hatte schon die Hand auf dem Drücker seiner Zimmertür.
„Grün Abend. . . Der Herr Bruno wer'n nicht wenig Angst gehabt haben wegen dem kleinen jungen Herrn", begann die Frau eifrig. „Erst heut mittag, wie der Herr Doktor nicht z' Haus waren, hat mir der alte Herr erzählt, was
geschehen is. . . So a Mallör! So a liabs Kindl und
so was!"
Bruno winkte ihr nur mit der Hand ab und verschwand in seinem Zimmer, zu ihrer Enttäuschung, denn sie hätte sich noch gern über den Fall ausgesprochen, und der alte Herr war auch gleich nach dem Nachhausekommen schlafen gegangen.
Bruno machte in seinem Zimmer Licht, hing Rock und Hut an einen Rechen neben der Tür und begab sich sofort in sein nach vorn gelegenes Studierzimmer.
Auch hier zündete er das Gas an, aber nicht die große Hängelampe in der Mitte, sondern bloß den Wandarm zur Seite des Schreibtisches, der an der Fensterwand stand.
Über dem Schreibtisch hing ein großes Bild in einem schlichten Holzrahmen, mit einem grünen Vorhang verhüllt. Ungeduldig zog Bruno an der Schnur. Er wollte sehen, was für ein Gesicht sie heute machte, denn immer, wenn er Zu ihr kam, ihr etwas zu erzählen, wußte sie es schon; es leuchtete aus ihren Mienen stilles Mitwissen und Mitfühlen . . .
„Ah!" Ein befreiender Seufzer entquoll seiner Brust, denn der tiefe Blick, dem seine Augen begegneten, verriet nichts von Verlehtheit oder Empfindlichkeit, nein, nur innige Liebe und befriedigter Anteil sprachen daraus zu ihm.
Bruno schob den Armstuhl von seinem Schreibtisch zurück, ließ sich darin nieder, und den Kopf nach hinten in die auf- gestühte Hand gelegt, versank er in stumme Zwiesprache mit dem Bild. . . Der Blick dieser — ach nur gemalten Augen glättete, ebnete alles in ihm.
Die das Bild vorstellte, eine junge Frau, in einem einfachen, grauen Seidenkleid, mit weißen Spitzen am Kragen und an den Ärmeln — war seine Mutter. Und obwohl das Bild aus den siebziger Jahren stammte, wies es doch keine jener Abgeschmacktheiten, die der Mode damals eigen waren, auf. In jener Zeit der entsetzlichen Frisuren, wo keine Dame ohne einen Turm falschen Haares oder Einlagen zu sehen gewesen war, hatte sie sich aus ihrem starkwelligen, reichen und ausgiebigen Haar eine Zopfkrone aufbauen können, wie die mit reichem Haarschmuck Begabten sie Zu allen Zeiten zu tragen pflegen, und so stand sie nun zeitlos da, ewig schön, ewig jung, und aus der Ewigkeit herüber blickte sie ihn an mit jenen Augen, die alles wußten, was ihn betraf, was er fühlte — seine stumme, doch getreue Gefährtin.
Ja, sie wußte auch heute, was ihm widerfahren war, und beruhigend leuchteten ihre dunklen Augensterne in den Aufruhr seines Innern hinein.
Sie war nicht böse. So wenig sie lebend Eifersucht gekannt hatte, so wenig konnte sie ihm gram sein, weil zum erstenmal wieder die Fibern in ihm erbebten, die seit ihrem Tode abgestorben gewesen waren. Sie gönnte ihm ja alles, ersehnte für ihn Trost und Ersatz. Die Augen, die so liebevoll und innig auf ihn herabblickten, hatten es ihm unzählige Male gesagt.
„Wie denn? Du möchtest es, Mama?" fragte er sie innerlich vorwurfsvoll. „Du weißt doch: oft, ehe der Tod raubt, raubt das Leben. Die sich eins glauben, wachsen auseinander. Du hast es selbst erfahren. Gesagt hast du es mir ja nie, aber ich weiß es doch. Diese Fopperei des Lebens, wo hinter der Glückslockung die Enttäuschung, die Ernüchterung des Gewordenen und doch nicht Erfüllten lauert, du kennst sie. Und ist die wahre Erfüllung gekommen, das seltene Glück, dann droht der Verlust, und ehe er wirklich droht, erzittern wir unendlich oft beim bloßen Gedanken an ihn ..."
Die Augen, in deren Tiefe er sich versenkte, blickten ihn eindringlich mahnend an.
„Die Sorge, die gleich im Herzen nistet und die geheimen Schmerzen weckt, die muß der Mensch tragen können. Die Lebensangst darf uns nicht zu unserm eigenen Feind machen. Wiegt nicht ein Augenblick der Seligkeit tausend leere, öde Stunden dessen auf, der nichts zu fürchten hat, weil sein Herz an nichts hängt? Und wenn das Liebste dir wieder geraubt wird, hast du es nicht besessen? Bleibt dir nicht die Erinnerung? Möchtest du denn lieber, ich wäre von dir gegangen, ehe ich dir noch etwas gewesen, so daß du jetzt auch das Andenken an mich nicht hättest?"
Seufzend erhob sich Bruno und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wenn er lange so dasaß, glaubte er fast, das Bild sich bewegen zu sehen, ihre Stimme Zu hören. Das kam: er wußte so gut, was sie sagen würde, daß er sich jedes Wort selbst sagen konnte.
Doch auch die Stimme der Mutter, die so vernehmlich aus der Vergangenheit zu ihm herübertönte, brachte ihm heute weder Frieden, noch Beruhigung.
Locke nicht, Leben, ich folge dir doch nicht, sagte er sich kopfschüttelnd. Ich muß einsam bleiben, denn ich möchte nicht bloß empfangen, sondern auch geben, und ein krankes, ewig beschattetes Gemüt kann kein gesundes Glück spenden.
In dem frisch aufgeräumten und gelüfteten Kinderzimmer stand am nächsten Vormittag Bruno an dem Vettchen seines kleinen Neffen, der mit dem Ausdruck sanfter Glückseligkeit auf dem blassen Gesichtchen schlummernd dalag, die Fingerchen der rechten Hand krampfhaft um einen Metallsoldaten geschlossen.
Die stille Seligkeit auf dem Gesicht des Kindes stammte vou der Müdigkeit her, die ihm noch von seinem Fall im Kopf und in den Gliedern steckte.
Spielen konnte der Kleine noch nicht, aber wenigstens hatte er seinen Soldaten sicher im Griff. So fest und andauernd hielt er ihn in seinem heißen Händchen, daß die Farbe weich geworden war und ihm die Finger verschmierte.
Cillp rannte und brachte warmes Wassers, um sie ihm abzuwaschen, und das Kind ließ dies ruhig geschehen. Doch als er sauber war, wollte er wieder den verschwitzten Soldaten in die Hand nehmen. Da brachte Bruno aus seiner Rocktasche einen höchst drolligen Pierrot zum Vorschein, den er eben in einer Spielwarenhandlung gekauft hatte, und für den neuen Mann ließ der Kleine den alten fahren.
Cillps Bericht lautete günstig. Der Bubi hatte gut geschlafen, und der Herr Doktor, der bereits dagewesen war, hatte ihn sehr gebessert gefunden. Er müsse nur noch inr Bett bleiben, und er schien sich auch gar nicht herauszusehnen.