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Sie hatte aber doch geglaubt, ihn diesmal berechnen zu können, und es bereitete ihr eine Enttäuschung, daß Bruno während der Genesungszeit ihres Bubi nicht nur seltener kam als sonst, sondern auch noch obendrein ausgesucht Zu solchen Zeiten, wo er erwarten durfte, niemand sonst bei ihr zu treffen.
Lisbeth aber blieb bald weg, als sie sah, daß ihre Besuche des Kindes halber nicht mehr notwendig waren. Ja, die hatte viel Zu tun. Man mußte es ihr glauben, wenn sie es sagte, und von jeher hatte sie vom Besuchemachen an und für sich wenig gehalten.
Bruno hatte geglaubt, der Gefahr zu entrinnen, wenn er sich dem Blick dieser Augen nicht mehr aussetzte, aber er ging ihm nach vom Morgen bis Zum Abend, im Schlaf und Wachen. Zwischen seine'Studien und Arbeiten, zwischen ihn und die Außenwelt drängten sich die kindliche Figur, das liebe Gesicht. Immer erblickte er sie vor sich, wie sie unerwartet eingetreten war, während er ungeduldig und gereizt auf Kamillas Mitteilungen fieberte. Der Augenblick hatte sich ihm so eingebrannt, daß er sich ihn zu jeder Zeit mit der Kraft der Wirklichkeit vors Auge stellen konnte. Doch er sah sie auch in anderen Momenten. Wie sie ausgesehen hatte, während sie ihm mitteilte, daß Bubi vom Sessel gefallen sei. Dann später am Abendtisch, wie sie Kamilla unterstützt, wie sie mit dem Papa gesprochen, wie sie geblickt und gelächelt hatte. ... Er ging wieder durch den Winterabend mit ihr hinüber in den menschenleeren dritten Bezirk, hörte ihre Stimme, sah sie im Flur stehen, an den stämmigen Papa gelehnt. „Mich nicht!" schlug es wieder wie ein Hauch an sein Ohr.
Und dann der nächste Tag! Wie herzig und lieblich sie in ihren Straßenhüllen ausgesehen hatte, mit den Veilchen an der Brust, selber so süß und wonnig wie die Veilchen. Wie ihr Blick ihm freundlich entgegenkam, sie sich aber gleich auf seinen Ton gestimmt hatte und scheu und zurückhaltend geworden war.
Am häufigsten jedoch sah er jenen Abschiedsblick wieder, den sie unwillkürlich von der Tür zurückgeworfen hatte, den Blick, in dem so vieles lag: Besorgnis, freundlicher Zuspruch, Frage, Bedauern, Vorwurf und wohl noch etwas anderes dazu.
Und dieses andere trat bei dem Phantasiebild immer stärker hervor, bis es ihnr aus ihren Augen als reinstes, herrlichstes Herzensgefühl entgegenstrahlte.
Doch wenn es so weit war, dann weckte er sich immer selbst aus seinem wachen Traum mit der herben Erklärung, daß alles nur die fortwirkende Arbeit der Einbildung war, die aus einem zarten Kein: alles entwickelte, hoch emporschießende Stengel, Blattwerk, Blüte und Frucht.
Die kurzen in ihrer Gegenwart verbrachten Augenblicke breiteten sich beim Wiederdurchleben so aus, daß sie die Fülle eines Menschenlebens faßten und seinem Herzen immer neue Nahrung gaben.
Wenn er jetzt vor dem Bild seiner Mutter saß, stellte sich das andere Bild ganz unbefangen daneben, wohl auch dazwischen. Die Augen der Mutter aber blickten ihn täglich vorwurfsvoller an, diese Augen, die sein Leben verfolgten und widerspiegelten. Warum willst du nicht glücklich werden? fragten sie. Es würde mich so glücklich machen.
Allein trotz des Sehnens in seinem Innern, das sich durch nichts beschwichtigen ließ, wandte er sich dennoch von dieser Mahnung ab.
Obgleich er die Jahre seit dem Tod der Mutter immer im geistigen Zusammenleben mit ihr verbracht hatte, ihr innerlich alles erzählte, sie immer vor sich erblickte und stundenlange Zwiegespräche mit ihrem Bild pflegte, erschien sie ihm seltsamerweise beinahe niemals im Traum.
Er hatte das nie begreifen können, aber es war und blieb einmal so. Er träumte nicht von ihr. Das heißt, er träumte wohl eigentlich häufig genug von ihr, doch gewöhnlich nur so,
daß er sie dabei nicht zu Gesicht bekam. Zumeist suchte er sie: im Gewühl der Straßen, in menschenwimmelnden Zimmern oder auch auf endlosen Wegen. . . . Manchmal wußte er: sie war da, nur erblickte er sie nicht, ller süße Trug einer leben- täuschenden Erscheinung beglückte ihn nie.
Jetzt aber — Wochen und Wochen waren vergangen — erblickte er sie einmal in der Nacht, wie aus dem Bild herabgestiegen, und sie führte ihm Lisbeth Gartenberg zu, im Brautkleid. . . . Der duftige Tüllschleier floß zu beiden Seiten des Hauptes herunter, und sie lächelte ihm so wehmütig selig zu, daß er in die heftigste Bewegung geriet.
„Ich Hab sie dir ausgesucht, ich Hab sie dir geschickt", sagte die Mutter, ganz mit ihrer eigener: Stimme, die er so lange schon nicht mehr gehört hatte, nicht einmal im Traum.
Mit klopfendem Herzen erwachte er, eben als er die Hand nach den beiden ausstrecken wollte.
So lebhaft war der Traum gewesen, daß er sich erst auf die Welt besinnen mußte und sich nur mit Mühe zurechtfand, bis er endlich begriff, daß er geträumt hatte und im Bett lag, während zur linken Hand von den Fenstern her ein schwacher Schimmer des anbrechenden Tageslichts in den dunklen Raum fiel.
Er brauchte eine ganze Weile, um sich zu beruhigen, und zwang sich zu der nüchternen Feststellung, daß Lisbeth ihm im Brautkleid erschienen sei, stamme gewiß daher, weil sie ihm doch erzählt hatte, sie habe ihn bei Kamillas Hochzeit zum erstenmal gesehen.
Oder hatte doch der Mann recht, der alle Träume als Wunscherfüllungen angesehen haben wollte? Er selbst war eher geneigt, sich auf die Seite der alten Weiber zu schlagen, die aus einer Hochzeit gerade das Gegenteil herausdeuten. Wenigstens fühlte er sich ngch diesem Traum verstimmt und bedrückt.
Um sich etwas zu zerstreuen, griff er während des Frühstücks nach der Zeitung, die ihm Frau Braun allmorgendlich auf den Tisch legte. Da fiel sein Blick auf eine Notiz der Lokalchronik, in der der Name Kempen ihn fesselte:
„Vier Personen überfahren. Die bei dem Kaufmann Alois Kempen in der Berggasse bedienstete Bonne Desiree Jaminot wollte gestern nachmittag mit den Kindern ihres Dienstgebers die Kreuzung der Kolingasse und der Liechtensteinstraße übersehen, als ein Postwagen in voller Fahrt daherrasselte. Eines der Kinder, ein Mädchen, stürzte knapp vordem Wagen zu Boden und geriet unter die Pferde, das Fräulein wollte ihr zu Hilfe eilen und wurde ebenfalls überfahren, und auch die beiden Knaben erlitten bei ihren Versuchen, das Schwesterchen unter dem Wagen hervorzuziehen, Verletzungen. Nur dem Umstand, daß es dem Kutscher im letzten Augenblick gelang, die Pferde zum Stehen zu bringen, ist es wohl zuzuschreiben, daß größeres Unglück verhütet wurde. Doch sind die Bonne und das kleine Mädchen schwer, die beiden Knaben nicht unbedenklich verletzt. Die herbeigerufene Rettungsgesellschaft verband die Verunglückten und schaffte sie in ihre Wohnung."
Mit einer höchst unangenehmen Empfindung ließ Bruno das Blatt fallen. Er sah Herrn Kempen vor sich, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, selbstzufrieden und glückssicher, ein Anwalt des Lebens. Seine Kinder brauchte man nicht mit tausend Ängsten aufzuziehen! ... Ob er nicht jetzt eines Schlimmeren belehrt war?
Die Anwandlung von Schadenfreude, die er bei diesen: Unglück empfand, ärgerte Bruno. Es war die unwillkürliche Genugtuung des Rechtbehaltens . . . Im übrigen aber ließ ihn die schauerliche Vorstellung nicht los. Er sah den lebendigen Knäuel unter den: Wagen und den Pferden, die gaffende Menge . . , Er hörte den Pfiff des Rettungswagens, jenes ebenso wohltätigen wie unheimlichen Gefährts, und lebte das Entsetzen der Eltern mit. (Fortsetzung folgt.)