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hörte sie ganz deutlich, daß einer der Kegelspieler sagte: „Sie hat ein Gemmengesicht".
Von diesem Wort lebte sie seitdem. Wenn sie sich vor den alten Stehspiegel stellte, dessen Mittellinie ihr gerade quer über die Brust lief, besah sie sich zuletzt immer en probt und fand dann das Wort des Halenseer Kegelbruders bestätigt. Und durfte es auch. Sie hatte wirklich ein Gemmengesicht,
und auf ihre Photographie hin hätte sich jeder in sie verlieben können. Aber mit dem edlen Profil schloß es auch ab: die dünnen Lippen, das spärlich angeklebte aschblonde Haar, das zu klein gebliebene Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, und am nüchternsten wirkten die wasserblauen Augen. Sie hatten einen Glanz, aber einen ganz prosaischen, und wenn man früher von einen: Silberblick sprach, so konnte man hier von einem Blechblick sprechen. Ihre Chancen auf Liebe waren nicht groß, wenn sich nicht jemand fand, dem das Profil über alles ging. Sie hatte deshalb auch den gebildeten Satz akzeptiert und operierte gern damit: „In der Kunst entscheidet die Reinheit der Linie". — Rechnungsrat Schultze hatte sich einmal durch diesen Satz blenden lassen, als er ihn aber nochmals gehört hatte, merkte er die Absicht und wurde verstimmt und sagte zu seiner Frau: „Ich bin mehr fürs Runde". Das klang ihr angenehm, denn es war das einzige, was sie hatte.
Die Sonne schien, und eine milde Luft ging, und jeder, der in die Georgenstraße einbog und die Bäume sah, die hier und da noch ihre vollbelaubten Zweige über einen Bretterzaun streckten, hätte glauben müssen, noch in: Anfang September zu sein, wenn nicht vor mehreren Häusern und auch vor dem Schultzeschen ein großer Wagen gestanden hätte mit einem Leinwandbehang und der Aufschrift: „Möbeltransportgeschäft von Fiddichen, Mauerstraße 17".
Die Seitenwände mehrerer auseinandergenommener Bettstellen waren schräg an den Wagen gelehnt, und auf dem Straßendamm stand ein Korb mit Küchengeschirr und an den Korb gelehnt ein Frauenporträt in Barockrahmen: hohes gepudertes Toupet und geblümtes Mieder, soweit sich von einem solchen sprechen ließ, denn das wichtigste Stück, soweit die Dezenz in Betracht kam, hatte der Künstler zu malen unterlassen und der sich darin bergenden Natur freien Lauf gelassen. Alles in allem: es war Ziehzeit, also konnte es nicht Anfang September, sondern mußte Anfang Oktober sein, wodurch übrigens die Georgenstraße sehr gewann, denn solchen Wagen und solch Porträt sah man in dieser Gegend nicht alle Tage, weshalb denn auch etliche Menschen und eine ganze Anzahl Kinder den Wagen und das Bild umstanden. Unter denen, die das Bild mit Interesse musterten, war auch ein junger Mann von etwa 26 Jahren. Sein Alter zu bestimmen war nicht leicht, weil zwischen dem Ausdruck seines Gesichts und seinem schwarzen Bollbart ein Mißverhältnis herrschte: der Ausdruck war jugendlich, der Bart deutete
auf einen „Mann in den besten Jahren". Aber der Bart hatte unrecht, sein Besitzer war wirklich erst 26 Jahre. Etwas über mittelgroß, breitschulterig und überhaupt so recht das, was gewöhnliche Menschen einen schönen Mann nennen. Er hätte sich sehen lassen können.
Als er mit seiner Musterung des Bildes fertig war, nah::: er seine eigentliche Aufgabe wieder auf und begann über den Straßendamm weg die an der andern Straßenseite stehenden Häuser zu mustern. Er war nämlich auf der Wohnungssuche. Die Götter waren mit ihn:, und kau:::, daß sich sein Blick auf das Haus gegenüber gerichtet hatte, so las er schon an einem über der Haustür angebrachten Zettel: „Drei Treppen hoch links ein elegant möbliertes Zimmer zu vermieten." Er nickte, wie wenn er zu sich selbst sagte: Hier will ich Hütten bauen. Und gleich danach ging er über den Damm und stieg die drei Treppen hinauf. Oben angekommen, war er ein wenig unwirsch, weil es eigentlich vier waren, er klingelte aber trotzdem und hatte nicht lange zu warten, bis Frau Möhring öffnete,
„Ist es bei Ihnen?"
„Ach, wegen des Zimmers? Ja, das ist hier. Wenn Sie's sich vielleicht ansehen wollen..."
„Ich bitte darum."
Frau Möhring trat in ein einfenstriges Mittelzimmer zurück, das als Entree für rechts und links diente und darin nichts stand als ein einreihig besetzter Bücherschrank mit einem Vogelbauer darauf; der im Sommer gestorbene Zeisig war jedoch noch nicht wieder ersetzt worden. Sonst nur noch zwei Stühle und ein weißer Leinwandstreifen als Läufer und am Fenster eine Azalie mit einer kleinen Gießkanne daneben. Alles dürftig, aber sehr sauber. Und nun öffnete Frau Möhring die Tür, die rechts nach dem zu vermietenden Zimmer führte. Hierher hatten sich alle Anstrengungen konzentriert, ein etwas eingesessenes Sofa mit rotem Plüschüberzug und ohne Schutzdecke, eine Visitenkartenschale, der Große Kurfürst bei Fehrbellin in Kupferstich und das Bett von schwarz gebeiztem Holz mit einer aus zahllosen Seidenstückchen zusammengenähten Steppdecke. Inmitten des Tisches stand die Wasserkaraffe auf einem großen Glasteller, der beständig klapperte.
Der schöne Mann mit dem Vollbart sah sich um, und da er wahrnahm, daß die beiden Dinge fehlten, gegen die er eine tiefe Aversion hatte, Oldruckbilder und Schutzdecken, war er sofort geneigt zu mieten, vorausgesetzt, daß er Aussicht hätte, für seine kleinen Bequemlichkeiten seitens der Wirtin gesorgt zu sehen. Gegen den bescheiden bemessenen Preis hatte er keine Einwendungen zu erheben, Portierfrage, Heizung, alles war geregelt, und er fragte eben nach de::: Hausschlüssel, als Mathilde Möhring vom Entree her eintrat.
„Meine Tochter", sagte Frau Möhring, und Mathilde und der schöne Mann begrüßten sich und musterten einander. Sie eindringlich, er oberflächlich.
„Ich nehme an, daß ich die Kleinigkeiten, die man so braucht, ohne viel Umstände zu machen, haben kann. Frühstück, Tee, mal ein Ei, Sodawasser — ich brauche viel Sodawasser und dem ähnliches."
Mathilde, die wie selbstverständlich jetzt das Wort nahm, versicherte, daß man das alles im Hause habe und daß von Umständen keine Rede sein könne. So was gehöre ja wie mit dazu; das Haus sei ruhig und anständig, ohne Musik, der Wirt, ein sehr liebenswürdiger Herr, nähme keinen ins Haus, der Klavier spiele.
„Das trifft sich gut", lächelte der Besucher; „nun, im Lauf des Tages komme ich noch mit heran und bringe einen bestimmten Bescheid." Und bei diesen Worten nahm er wieder seinen breitkrämpigen Hut aus weichem Filz und empfahl sich von Mutter und Tochter.
Mathilde begleitete ihn bis an die Flurtür. Als sie wieder zurückkam, hatte sich die Mutter auf das Plüschsofa gesetzt, was sie für gewöhnlich ungern tat, und strich über ein kleines seidenes Rollkissen hin, darauf gelbe Sterne aufgenäht waren. „Nun, Thilde, was meinst du? Die Stube steht nun schon seit den Ferien leer, ich finde, daß die Ferien zu lange dauern, es wird Zeit, daß wir einen Mieter finden. Er will sich noch besinnen, sagt er, und uns dann einen bestimmten Bescheid bringen. Das ist so Rückzug. Das sagen
alle, die nicht wiederkommen wollen."
„Der kommt wieder."
„Ja, Thilde, woher weißt du das? Dann hätte er doch gleich mieten können."
„Freilich, gekonnt hätte er, aber so einer sagt nie gleich Ja, der besinnt sich immer, das heißt, eigentlich besinnt er sich nicht, er schiebt's bloß so ein bißchen Taus. Gleich Ja oder Nein sagen, das können nicht viele, und der schon gewiß nicht."
„Gott, Thilde, du sagst das alles so hin wie's Evangelium und weißt doch eigentlich gar nichts."
„Nein, Mutter, alles weiß ich nicht, aber manches weiß ich, und wenn ich sage: -Mutter, so und so', dann ist es auch so; der kommt wieder,"