1092
Sie dachte nicht an Einschlafen, sie wollte nur allein sein und einen Augenblick andere Gedanken haben. In Hugos früherem Zimmer ging sie auf und ab. Da war das Stehpult, darauf die juristischen Bücher immer so verstaubt umhergelegen hatten, und da war der Sofatisch, auf dem hochaufgeschichtet die kleinen Reclamhefte lagen und ein paar Blaustifte daneben, um immer gleich Notizen an den Rand schreiben zu können. Und da war das Fensterbrett, an das gelehnt sie so sonderbar sentimental ihre Verlobung gefeiert hatten, er noch halb krank und verlegen, sie nüchtern und berechnend.
Ich habe mich ihm immer überlegen geglaubt, sann sie vor sich hin. Es war nicht so. Wenn das ewige Nachrechnen klug ist, dann ist Mutter die klügste Frau. Von den andern, zu denen Hugo gehörte, hat man doch mehr, und ich will versuchen, daß ich ein bißchen davon wegkriege. Aber es wird mir wohl nicht viel helfen. , Bon Natur bin ich gerade so wie Mutter. Sie berechnet immer, was es kostet, und ich rechne nur den Vorteil aus. Die vier Krümel Zucker will ich mir in eine Schachtel legen und hier in das offene Sekretärfach stellen. Da habe ich es immer vor Augen und will dran lernen, daß das ganz Kleine nun wieder anfängt, und wenn Mütter weimert, will ich nicht ungeduldig werden.
Ich dachte wunder was ich aus ihm gemacht hätte, und nun finde ich, daß er mehr Einfluß auf mich gehabt hat, als ich auf ihn. Rechnen werde ich wohl immer, das steckt wohl drin, aber nicht zu scharf, und will hilfreich sein.und für die Runtschen sorgen, schon deshalb, weil die Runtschen seine einzige Renonce war. Und wenn er das sieht, wird er mir's danken, aber er wird's wohl nicht sehen.
Und dann ging sie wieder auf und ab und trat ans Fenster, und da, wo damals der Mond gestanden hatte, hing ein graues Gewölk. Aber während ihr Auge noch darauf ruhte, rötete sich's, und die Sonne gab ihm einen goldenen Saum.
Vielleicht ist das meine Zukunft, dachte Thilde.
Und sie holte sich den Regenmantel aus dem Entree, deckte sich damit zu, verfolgte noch eine Weile das Licht und das Schattenspiel an Wand und Decke und schlief ein.
Zu Thildeus besonderen Eigenschaften gehörte von Jugend auf die Gabe des Sichanpassens, Sichhineinlebens in die jedesmalige Situation. Wäre Hugo, was nicht anzunehmen, aber doch auch nicht unmöglich war, am Leben und im Amt geblieben und nach Ablauf seiner Woldensteiner Amtszeit zum Oberbürgermeister einer Provinzialhauptstadt gewählt worden, so würde seine Frau bei Besuchen des Oberprasidenten, ja selbst bei Kaiserparaden die Honneurs des Hauses mit vollkommener Unbefangenheit und ausreichender Geschicklichkeit gemacht haben.
Jetzt, wo sie sich nach einem kurzen Erfolg auf die Stufe zurückversetzt sah, von der sie ausgegangen war, fand sie sich auch darin zurecht und nahm ihr altes Leben ohne jede weitläufige Betrachtung und jedenfalls ohne Klage darüber wieder auf.
Die Sache lag so und so, folglich mußte sie so und so gehandhabt werden. Nur keine nutzlosen Betrachtungen! Es handelte sich für sie keinen Augenblick darum, ihre Situation in irgendein Gegenteil zu verkehren, sondern immer nur darum, aus der Situation, wie sie nun einmal war, das Beste zu machen, und dies tat sie voll Überzeugung und auf ihre Weise, rücksichtsvoll und doch auch wieder entschieden. Soweit es möglich, war sie der Alten zu Willen und unerschöpflich in kleinen Guttaten und Aufmerksamkeiten, und ging so weit, daß sie wie vordem das bloß alkovenhafte Schlafzimmer mit ihr teilte. Den ganzen Tag aber sich beständig von ihr über Spittel und ähnliche Dinge unterhalten zu lassen oder Fragen zu beantworten, die sich fast immer auf ihr intimes Woldensteiner
Leben bezogen, dazu war sie nicht mehr gewillt und hatte dementsprechend kategorisch erklärt, daß sie wenigstens den Tag über allein sein müsse.
Das mit dem Vermieten müsse ein Ende haben. Und so hatte sie sich denn drüben eingerichtet, und als die Alte sah, daß Thilde viel schrieb und sich unter Büchern und Karten vergrub und, wenn sie zu Tisch kam (die Runtschen mußte das Essen jetzt holen), oft rote Backen vom Lernen hatte, konnte sie sich denken, was Thilde vorhatte.
Sie konnte sich's denken und war auch nicht eigentlich dagegen. Aber wenn sie sich auch recht gut entsann, daß der Seminarlehrer schon damals, ehe Möhring starb, immer von Thildens schönen Gaben gesprochen hatte, so ging sie doch davon aus, daß „Lehrerin" nicht recht was sei, ja, daß jedes andere Unterkommen, wenn auch von etwas fraglicher Beschaffenheit, dem immer noch vorzuziehen sei.
Bei Tage wagte sie mit solchen Betrachtungen nicht recht hervorzutreten, aber wenn sie zu Bett gegangen waren und schon eine Weile ganz ruhig gelegen hatten, richtete sich die Alte von ihrem Kissen auf und sagte, während von der Straße her durch die nach vorn hinaus offenstehende Tür ein schwacher Lichtschimmer sie traf:
„Thilde, schläfst du schon?"
„Nein, Mutter, aber beinah. . . Willst du noch was?"
„Nein, Thilde, wollen will ich nichts. Mir is bloß so furchtbar angst wegen deiner Lernerei. Du siehst so spack aus und hast solchen Glanz in den Augen. Er hat ja doch die Schwindsucht gehabt, und am Ende..."
„Nun?"
„Am Ende wär' es doch möglich . . . und wenn es so is, is doch frische Luft immer das beste und nich so viel sitzen."
„Gewiß, frische Luft ist immer gut, aber wo soll ich sie hernehmen? Hier ist sie nicht gut, und wenn es nicht wegen deines Rheumatismus wäre..."
„Nein, Thilde, daß das Fenster offen steht, das geht nich, aber du könntest doch die frische Luft haben."
„Ich? Woher denn?"
„Ja, Thilde, du hast mir doch gleich in deinem ersten Brief geschrieben, ich meine in deinem ersten, als er tot war, da hast du mir geschrieben von wegen -Hausdame' und mit Gehalt. Und wenig kann es doch nich gewesen sein, weil er ja so reich is, wie du mir geschrieben hast. Und alt is er auch, und da hättest du nu die schöne frische Luft gehabt und die gute Verpflegung. Ich will ja nichts sagen, aber was wir heute hatten, hatte doch keine Kraft mehr. Und wenn du ihn ordentlich gepflegt hättest, und das hättest du gewiß, denn du hast ja Mitleid mit jedem und mit mir auch, denn du bist gut, Thilde, ja, Thilde, denn hätten wir jetzt vielleicht was. Einer, der so reich is, kann doch nich so mir nichts, dir nichts sterben, ohne was zu hinterlassen. Und vielleicht daß er noch ganz zuletzt . . . War er denn katholsch?"
„Natürlich war er katholsch."
„Na, denn ging es nich."
„Ach, deshalb war' es schon gegangen. Katholsch is nicht schlimm. Aber was denkst du denn. Ich will von Woldenstein gar nicht reden. Aber hier! Was würden hier die Leute gesagt haben. -Die hat es eilig.' Und die Petermann, der alte Giftzahn, die hätte gesagt: -Es wird wohl eine mulmige Geschichte gewesen sein.'"
„Ach, Thilde, dessentwegen muß man sein Glück nicht fortstoßen. Die Leute sagen immer so was, aber wenn man was hat, denn is es gleich, und bloß wenn man nichts hat..."
„Ja, Mutter. Nun wollen wir aber schlafen."
Der Wunsch der Alten ging ganz entschieden dahin, daß sich Thilde wieder verheiraten sollte. Hugo war ein sehr hübscher Mann gewesen und aus einem' sehr guten Haus.