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stein, Firma Silberstein und Ehrenthal, wird auch alles besorgen, es sind sehr reelle Leute, fortschrittlich, aber sehr reell. Und was aus dem Mobiliar herauskommt, das werden wir kriegen auf Heller und Pfennig. Ich habe noch ein paar Tage hier zu tun und Briefe zu schreiben, auch an den alten Grafen, der mir eine Stellung als Hausdame in seinem Haus angeboten hat — natürlich mit Gehalt — aber all dies wird in drei oder vier Tagen beendet sein, und spätestens Sonnabend früh gedenke ich in Berlin einzutreffen. Ich
schreibe aber noch eine Karte vorher, damit Du ganz sicher bist und die Runtschen zu rechter Zeit bestellen kannst. Ich bringe Dir auch ein kleines Andenken von ihm mit, ein kleines Kreuz, vorn mit einer Perle. Die Perle hat einigen Wert.
Ich freue mich, Dich wiederzusehen, so schmerzlich auch die Veranlassung ist, denn die Pension reicht nicht an das Gehalt. Ich muß Dir das sagen, mir ist es gleichgültig. Ich bringe mich schon durch und Dich mit.
Deine treue Tochter Thilde."
Sonnabend früh mit dem Achtuhrzug kam Thilde auf dem Friedrichstraßenbahnhof an. Den kleinen Handkoffer, den sie mit sich führte, gab sie einem Gepäckträger zugleich mit ihrem Gepäckschein und wies ihn an, ihr alles in ihre Wohnung zu schaffen, drüben bei Schultzens, drei Treppen.
„Jawoll, Fräulein", nickte der Packträger — er verbesserte sich aber rasch, denn er kannte sie von alter Nachbarschaft her ganz gut, und versprach dann, in einer halben Stunde da zu sein.
Als sie ging, sah er ihr einen Augenblick nach. Was doch nich das liebe Geld alles tut. — Die hat sich tüchtig 'rausgemausert, ornt'lich 'n bißchen forsch, und sogar mit 'n Krimstecher!
Während ihr diese Betrachtungen folgten, schritt Thilde über den Damm hin und sah auf das Haus und nach der dritten Etage hinauf. Es hatte sich nichts verändert, und doch kam ihr alles ganz anders vor. Ein eigentümliches Gefühl beschlich sie, als sie sich sagte: Sei froh, daß es ist, wie es ist, es könnte viel schlimmer sein. Wie war es vor zwei Jahren, da mußte ich noch alles selber tun.
Sie ging auf die rechte Seite der Straße und spähte hinauf, ob sie die Alte vielleicht am Fenster sähe. Aber sie sah nichts, auch nicht in den andern Etagen, überall waren noch die Rouleaus herunter. Es war ihr lieb, ganz unbeachtet zu sein, aber sie war es nicht, und während sie über den Damm auf die Haustür Zuging, sagte oben die Rätin, die vom Frühstückstisch aufgestanden war und sich ein Guckloch in der angelaufenen Scheibe zurechtgemacht hatte:
„Was sitzst du wieder über der Zeitung, Schultze, so was sieht man nicht alle Tage. Sie hat bloß schwarze Handschuhe an und sieht aus, als reiste sie nach Dresden und in die Sächsische Schweiz. Regenmantel und Opernglas, es fehlt bloß noch der Alpenstock."
„Ach, du hast immer was zu quängeln, Luise. Wenn sie mit einer langen Trauerfahne ankäme, dann wäre es dir auch nicht recht."
Thilde stieg langsam eine Treppe hinauf, je höher sie kam, desto langsamer, weil ihr vor der Begegnung mit der Alten bange war.
Auf dem letzten Treppenabsatz stand die Runtschen und nahm ihr, weil sie nichts anderes mit sich führte, wenigstens den Regenschirm ab.
„Na, Runtschen, wie geht es?"
„Jolt, Frau Bürgermeistern, wie soll et jehen" — aber ehe sie das Gespräch fortsetzen konnte, war man oben, und Thilde lief auf die Mutter zu, die halb sonntäglich zurechtgemacht, in der offenen Tür stand und gleich zu weinen anfing.
„Mutter, so weine nur nicht gleich. Jeder kommt doch mal 'ran."
„Ja, bloß der eine zu früh und der andere zu spät. Wenn ich doch 'rangekommen wäre!"
Und dabei trat sie vom Flur her in das Entree und vom Entree in die Wohnstube, wo vor dem Sofa schon der Kaffee stand und Semmeln und Butter.
„Na, komm, Thildchen, nu wollen wir eine warme Tasse trinken, und erzähle mir alles, wie es war."
„Ja, Mutter, gleich. Ich möchte mir aber erst die Hände waschen, und das Haar ist auch in Unordnung, ich hatte den Wind ins Gesicht und wollte nicht zumachen."
Und dabei erhob sich Thilde wieder, legte Hut und Krim- stecher beiseite und hing den Mantel an einen Ständer im Entree. Dann kam sie wieder und meinte: „So, Mutter, nun schenk uns ein. Kalt war es ja, und der Mantel hat ja auch nicht viel geholfen."
„Ich dachte, du würdest ein Umschlagetuch drüber nehmen und überhaupt so etwas, was wie Trauer aussieht. Hast du denn gar keine Trauer gelragen? Ich weiß ja, daß es hier sitzt, aber wegen der Leute. Und sie haben sich doch sehr anständig gegen dich benommen."
„Ja, Mutter, natürlich habe ich Trauer getragen. Silberstein hat mir alles besorgt und hatte das meiste auf Lager. Ich war ganz schwarz mit Schleier und Schleppe, als wie sich's gehört, aber als ich mich für die Reise zurechtmachte, habe ich alles eingepackt, und du kannst es sehen, wenn es nachher kommt."
„Und unterwegs wolltest du nicht?"
„Nein, Mutter, unterwegs nicht. Und ich wollte auch nicht hier so ankommen. Das sieht gleich so gefährlich aus, und die meisten glauben nicht dran, und ich habe gesehen, daß sie zudringlich wurden, bloß wegen zu viel Trauer."
„Aber willst du es denn einfach so liegen lassen, es kriegt ja Flecke, und von Silberstein hast du's doch auch nich umsonst."
„Aufträgen will ich es nicht, aber tragen werde ich es doch, wo's hingehört, wenn ich ernste Besuche mache. Denn wenn ich auch die Pension habe, so muß doch etwas geschehen."
„Ach, Thilde, daß du nun davon gleich sprichst. Ich Hab' es ja nicht gewollt und habe mir diese ganze Nacht gesagt: Sprich nicht davon, Thilde mag es nich, Thilde war immer großartig, und nu' is sie es erst recht. Aber da du nu selber davon anfängst, sage, Kind, was soll nu werden? Denn es war ja doch eine furchtbare Krankheit."
„Ja, Mutter, das war es. Immer die Beklemmungen und die Atemnot ..."
„Ach ja, Thilde, die Beklemmungen, aber ich meine nich die Beklemmungen, ich meine, daß es so lange gedauert hat."
„Ja, gerade ein Vierteljahr."
„Und wenn auch in einer kleinen Stadt der Doktor bloß um die Ecke wohnt, die Länge hat die Last, und zu
letzt macht es doch was aus. Und dann die Medizin! Und
gerade wenn es mal schon besser war, da müssen sie dann immer gestärkt werden. Aber es hilft meistens nie und is alles bloß hin."
Thilde nahm ein Stück Zucker, brach es zweimal durch und sah nun auf die vier Krümel, die da vor ihr lagen.
In den vier Krümeln hatte sie nun wieder ihr Leben,
und die Mutter, die noch kein Wort von den: armen guten Mann gesprochen hatte, rechnete schon wieder, was seine Krankheit gekostet habe. So nüchtern sie selber war, das war ihr doch zu viel. Sie nahm der Alten Hand und sagte: „Mutter, bringe der Runtschen den Kaffee 'raus, sie wird wohl noch nichts Warmes genossen haben. Ich will in die andre Stube gehen und mich einen Augenblick hinlegen. Vielleicht schlafe ich ein, mir ist doch so übernächtig."
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