Heft 
(1906) 52
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nach dem ersten Haus des soeben verlassenen Dorfes bringen konnten. Als das geschehen war, stellte sich heraus, daß der Mann aus dem Dorf stammte. Er wurde im kalten Zimmer entkleidet, auf eine Bettunterlage gelegt und am ganzen Kör­per mit Schnee abgerieben. Daneben wurde auch durch Er­heben der beiden Arme nach oben mit darauffolgendem raschen Senken und danach Andrücken gegen den Brustkorb bei vor- gezogener Zunge die künstliche Atmung eingeleitet, alles das so lange, bis unter tiefen, anfangs vereinzelten, dann allmählich regelmäßig werdenden Atemzügen auch die Herz­tätigkeit stärker und normal geworden und das Bewußtsein zurückgekehrt war.

Nunmehr wurde der Patient ins Bett gebracht, gut bedeckt, auch der Ofen ungeheizt; warmer Tee und später warmer Wein beschleunigten daneben seine Wiederanregung und Belebung, nach deren Eintritt nunmehr der etwa 60 Jahre alte, kräftige Mann erzählen konnte, was seiner Auffindung vorausgegangen war. Er war den ganzen Tag über an verschiedenen Orten Geschäften nachgegangen, ohne regelrecht gegessen, jedoch auch ohne zu viel Spirituosen getrunken zu haben, so daß er schon recht ermüdet und sehr durchfroren den Heimweg angetreten habe; aber er sei dennoch bis in die Nähe des Dorfes gekommen, dessen Lichter er schon gesehen zu haben sich noch erinnere; dann habe ihn auf einmal dumpfes Kopfweh sowie großes Ruhebedürfnis überkommen, und die Beine seien ihm so schwer geworden, daß er, um ganz kurz auszu­ruhen und danach wieder weitergehen zu können, sich auf den Rand des Chausseegrabens gesetzt habe, wobei er unglück­licherweise eingeschlafen sein müsse.Das war aber nicht der gewöhnliche Schlaf, sondern Kältebetäubung, die Vorläuferin des Erfrierungstodes!" sagte ich.Da hätten Sie unter allen Umständen all Ihre Willenskraft zusammennehmen und die kurze Strecke noch vorwärts bis ins Dorf gehen müssen; denn nur der Zufall, daß wir vorbeikamen und Sie auch sahen, rettete Ihr Leben!"Aber von diesen Vorläufern wußte ich nichts," ant­wortete darauf der Mann,sonst hätte ich sicher durch Hinsetzen nicht mein Leben gefährdet, so viel Kraft hätte ich noch zu­sammengebracht!"

Hätte der Mann nur wenig länger bei 17 Grad U. im Freien gelegen, so wäre er in Froststarre verfallen, und sein Herz hätte stillgestanden für immer, schmerzlos freilich, denn der Erfrierungstod ist ein empfindungsloser Betäubungstod. Er tritt aber oft auch ganz plötzlich ein als wahrer Külteschlag, ohne alle warnenden Vorläufererscheinungen, durch Herzstillstand. In dieser Form tritt er namentlich dann leicht ein, wenn Gewohnheitstrinker oder Leute, die nur ge­legentlich einmal des Guten Zu viel getan haben, sich starker Kältewirkung aussetzen, besonders bei eisigkalten Schneestürmen über einen mitten im Weg liegenden derart Er­frorenen fiel ich im schweren Winter von 1860 bei einem nächtlichen Krankenbesuch. Berüchtigt sind als Kältetöter die nordamerikanischen Blizzards. Übrigens muß als Regel aufgestellt werden, daß man bei allen erfroren Auf- gesundenen die oben angegebenen Rettungsmaßnahmen an­wenden muß, und zwar lange genug, selbst stundenlang, da man in keinem Fall ganz sicher wissen kann, ob nicht doch ein Lebensfunken verborgen noch im Innern glimmt, der schließlich zum Leben angefacht werden kann, wenn auch erst nach langem und heißem Bemühen.

Daß aber bei solchen Personen, die halberfroren längere Zeit im Freien lagen, dies nicht immer ohne jede schlimmen Folgen bleibt, ist begreiflich; oft erleiden sie Erfrierungen geringeren oder höheren Grades an den besonders dazu geneigten dünnen und äußersten Körperteilen, in denen der Blutumlauf an sich schon schwach ist, an Händen und Füßen, zumal an Zehen und Fingern, dann an der Nase und den Ohren, aber auch bis in die Unterschenkel und Vorderarme hinauf. Treten doch schon bei solchen, die längere Zeit selbst bei der Arbeit, beim Gehen noch mehr beim Stehen beim Winterspiel und -sport, beim Postenstehen usw. in der Kälte sich aufhalten,

häufig genug Frostschäden ein. Namentlich sind schwächliche und geschwächte, schlechtgenährte und verweichlichte weibliche Personen und Kinder dazu geneigt; bei ihnen braucht sogar der Kältegrad, dem sie ausgesetzt waren, nicht einmal un­gewöhnlich tief und auch die Zeit, während der dies geschah, nicht sehr lang gewesen zu sein.

Der schwerste Grad örtlicher Erfrierungen ist der, bei dem alle Weichteile des betroffenen Gliedes bis zu den Knochen und selbst diese noch absterben, so daß sie dem trockenen oder dem feuchten Brand verfallen. Dieser tritt aber in ausgedehntem Maß nicht häufig ein, zum Glück, denn Erscheinungen solcher Art sind oft geradezu erschreckend, so daß man dem Ärmsten eher den Tod wünschen als ihn am Leben erhalten wissen möchte.

Und dennoch können selbst solche Unglückliche unter Umständen gerettet werden dann nämlich, wenn der Brand nicht unaufhaltsam fortschreitet, sondern gegen das Gesunde sich abgrenzt freilich mit Verlust der betroffenen Glieder durch unvermeidliche Amputation. Biel öfter gehen nur einzelne Teile der Ohren, der Nase, einzelne Finger oder Zehen durch Frostbrand zugrunde, wie das z. B. dem Herzog von Aosta widerfuhr, der während seiner Nordpolexpedition auf diese Art zwei Finger eingebüßt hat. Dieser Grad, der sogenannte dritte, muß natürlich nur der ärztlichen Hilfe überlassen werden.

Anders wird dies in den beiden leichteren Graden gehalten, denn bei solchen wird erfahrungsgemäß sehr oft, ja in der Regel nicht der Arzt gerufen, sondern sie werden mit Haus­mitteln uralter Herkunft oder, wenn diese versagen, von Pfuschern behandelt", nicht nur auf dem Land und nicht bloß bei Un­gebildeten mit Unrecht; denn auch sie sind nicht immer unbedenklich, sondern bergen manche Gefahren, öfter aber noch lassen sie Entstellungen oder doch lästige Folgeübel fürs ganze Leben zurück.

Der erste Grad der Erfrierung ist der häufigste, vor dem zweiten bewahrt die Patienten in der Regel die Schmerz­haftigkeit des ersten, was um so besser ist, als der zweite nicht mehr so oft ohne bleibende Nachteile zu heilen pflegt wie jener.

Die Erscheinungen der leichtesten Erfrierung sind vielen aus eigener Erfahrung, namentlich von den Kinderjahren her, bekannt. Nach kürzerem oder längerem Aufenthalt im Freien, bei oft nicht einmal sehr niederer Lufttemperatur, entsteht all­gemeine Durchkältung des Körpers und in Füßen und Zehen, Händen und Fingern, Nase und Ohren juckendes Frostgefühl. Diese Teile verblassen dabei anfangs durch Blutleere, werden aber unter Abnahme des Empfindungs- und Tastgefühls als­bald bläulich- bis dunkelblaurot und schwellen ein wenig in­folge der Stockung in den venösen Gefäßen an, wodurch die Schmerzen noch heftiger werden, namentlich dann, wenn die Patienten ins warme Zimmer flüchten oder gar sich an den Ofen stellen, was namentlich Kinder törichterweise oft tun. Lautes Weinen und Schreien ist die Folge. Das einzig richtige Verfahren in solchen Fällen ist, daß sie so lange in kühlen Räumen die Glieder bewegen und zeitweise die er­frorenen Hände, Nase und Ohren mit Schnee abreiben oder mit kaltem Wasser waschen, bis das Wärmegefühl sich wieder einstellt; dann erst ist der Übergang ins erwärmte Zimmer ohne Schaden zulässig.

Wiederholen sich solche leichte Erfrierungen der genannten Teile öfter, so bleiben schließlich Verdickungen und blaurote Färbung zurück, es bilden sich an Händen und Füßen, be­sonders an der oberen Seite der Finger und Zehen soge­nannte Frostbeulen, Nase und Ohren aber verlieren an Form oder werden gar unförmlich dick. Die erfrorenen Hautstellen schmerzen dazu fortwährend mehr oder weniger, besonders bei Witterungswechsel, selbst in wärmeren Jahreszeiten und in der Bettwärme. Zur Verhütung häufiger Wiederkehr von Erfrierungen überhaupt und damit der bleibenden Nachteile letztgenannter Art ist es notwendig, das ganze Jahr hindurch