Heft 
(1906) 52
Seite
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brauchbare Thermometer herzustellen. Seit diesen epochemachen­den Erfindungen erst bezeichnet man die Abstufungen der Temperatur auf sicherer Grundlage nach Graden und mißt sie genau; in der Medizin auch die des Körpers im gesunden und kranken Zustand. Bei den Forschungen in der letzten Richtung stellte sich nun die merkwürdige Tatsache heraus, daß zwar schon geringe Steigerung und desgleichen Sinken der inneren Körperwärme das Leben zu gefährden und zu vernich­ten imstande sind, daß aber der menschliche Organismus ander­seits bis zu erstaunlichen Grenzen die Fähigkeit hat, bei sehr hohen und tiefen Gmden der äußeren Temperatur die innere Temperatur gleich zu erhalten, mit andern Worten, sie zu ertragen und sich gegen Hitze und Frost zu schützen. Freilich - wenn diese Schutzmittel und Schutzmaßregeln vernachlässigt werden oder nicht benutzt werden können, sinkt auch die innere, und dann tritt durch Steigerung oder Sinken der äußeren Temperatur über oder unter ein gewisses Maß schließlich Ver­nichtung des Lebens überhaupt oder doch Zerstörung einzelner Körperteile ein. Die zerstörende Wirkung hoher Temperaturen bezeichnet man dann als Verbrennung, die niederer Grade als Erfrierung. Von der letzteren wollen wir im folgenden sprechen.

Bemerken müssen wir im voraus, daß solche niederen Temperaturgrade, wenn auch die äußeren Verhältnisse sich gleich sind, nicht immer und bei allen die gleiche Art oder nur überhaupt Erfrierungen zur Folge haben, sondern daß darin große Verschiedenheiten Vorkommen, so zwar, daß die sogenannte individuelle Disposition auch hier zu Hilfe genommen werden muß.

Gerade darin unterscheiden sich die Erfrierungskrankheiten von den Verbrennungskrankheiten, die doch beide, durch ganz das gleiche Agens, die gleiche Ursache die Temperatur wenn auch freilich durch deren entgegengesetzte Enden, hervorgerufen werden, durchaus: Verbrennung erfolgt ohne Unterschied stets durch hohe Temperaturgrade bei allen, ohne daß eine besondere Disposition" nötig wäre! Zu Erfrierungendisponiert" sind in erster Linie Kinder, sowohl Knaben wie Mädchen, besonders blonde mit zarter Haut; in späteren Jahren weibliche Indi­viduen mehr als männliche und begreiflicherweise schwächliche mehr als kräftige, bereits kranke mehr als ganz gesunde, vor allem aber Trinker und Trinkerinnen; ganz vorwiegend ist Be­trunkenheit in zwei Dritteln aller Fälle Ursache des Erfrierungstodes, also des höchsten Grades der Frostwirkung. Zu ihrem Studium auf den Menschen hat man Experimente an Tieren, die ja selbst in schweren Wintern oft zahlreich er­frieren, angestellt, um zu erfahren, ob und wie sich Frostschäden und Frosttod beim Menschen am besten heilen und, noch besser, verhüten lassen. Ward die Jnnentemperatur der Tiere auf etwa die Hälfte der normalen - auf 2(>o bis 180 Celsius über Null abgekühlt, so verfielen sie rascher Bewegungs- und Empfindungs­losigkeit und schließlich dem Tod, wenn nicht sofort zweckent­sprechende Hilfe eingeleitet ward, die dann oft noch zu vollständiger Wiedergenesung führte. Das gleiche lehrte auch die Erfahrung an halberfroren aufgefundenen Menschen, bei denen übrigens das Ergebnis der Gegenmaßregeln bei so tief gesunkener Körper­wärme immerhin unsicherer war, während solche, bei denen das Thermometer noch eine innere Temperatur von 24 o 0. nachwies, in der Regel vollkommen wiederhergestellt werden konnten. Welcher Art die Hilfeleistungen der Laien sein

müssen, werden wir bei den einzelnen Erfrierungskrankheiten angeben.

Die Schädigungen, die der menschliche Organismus durch die Kälte erfährt, teilt man hergebrachterweise ein in die allgemeine Erfrierung bzw. den Erfrierungstod und in die örtlich begrenzten Erfrierungen, von denen man wieder drei verschiedene Grade, je nach der Stärke und der Tiefe der Frostwirkung auf die Haut oder die übrigen Gewebe der Körperteile, besonders der Gliedmaßen, unterscheidet.

Die allgemeine Erfrierung erstreckt sich auf den ganzen Orga­nismus, vernichtet (oder bedroht) das Leben direkt und

plötzlich. Fälle dieser Art, die im freien Feld und auf der Landstraße sich ereignen, sind es denn auch allein oder doch haupt­sächlich, über die während der kalten Jahreszeit regelmäßig in der Tagespresse unter der RubrikTragische Todestülle" berichtet wird, während doch die Gliedererfrierungen oft viel tragischer sind.

Nicht immer sind es die kältesten Herbst- und Wintec- abschnitte, in denen die erstgenannten am häufigsten Vorkommen, eher das Gegenteil; denn die grimmigste Frostzeit fürchtet jeder­mann und meidet dann möglichst den Aufenthalt im Freien. Auch liefern nicht die kältesten Klimate die zahlreichsten Erfrierungs­todesfälle, sondern die mehr gemäßigten und milderen, weil man sich in diesen weniger gefährdet und sich deshalb auch nicht sorgfältig schützen zu müssen glaubt. Welche Kältegrade der Mensch, wenn er alle Schutzmaßregeln ergreift, ertragen kann, beweist der Umstand, daß in Irkutsk, dem kältesten Platz der bewohnten Erde, und bei Süd- und Nordpolexpeditionen noch Temperaturen von 60 Grad unter Null selbst längeren Aufenthalt im Freien gestatten; ohne diese können anderseits aber sogar unter den Tropen infolge des starken nächtlichen Temperaturwechsels Erfrierungstode Vorkommen, namentlich wenn unmäßiger Alkoholgenuß vorausgegangen war. Aus der nüchternen Lebensweise der Japaner dagegen erklärt sich daher ohne Zwang, daß während des grauenhaften letzten Winterfeldzugs im russisch-japanischen Krieg viel weniger japanische Soldaten dem Erfrierungstod und Erfrierungen überhaupt unterlegen sind als russische, ebenso wie die ältere Erfahrung, daß im napoleonischen Krieg gegen Ruß­land im Jahr 1812 die italienischen und dalmatinischen Soldaten der Kälte und dem Kältetod viel besser widerstanden als die aus nördlichen Ländern stammenden und die fran zösischen Truppenteile.

Der allgemeinen Erfrierung und dem Erfrierungstod gehen einige wenige, in der Regel nur kurz, meist sehr kurz, ganz selten etwas länger dauernde Vorläufer- und Warnungs­erscheinungen voran, deren Kenntnis gerade für den Laien von größter Wichtigkeit ist; denn von ihr hängt, wenn die nötige Willenskraft vorhält, allein die Rettung von drohender Er­frierung ab.

In den Tagen des Januar 1871, als unsere Soldaten an der Lisaine bei 17 Grad im Freien Mächtigen mußten, aber, im Gegensatz zu den schwächlicheren und seelisch nieder­gedrückten Franzosen, infolge der Gewöhnung an Strapazen sowie im Bewußtsein ihrer Verantwortung sich einander wach und in steter Bewegung erhielten und dadurch der Erfrierung widerstanden, herrschte auch am Rhein, den: wärmsten Teil Deutschlands, die gleiche und in einzelnen Nächten noch stärkere Kälte.

Damals fuhr ich an einen: Spütabend von der Dorf­praxis nach Haus, im Schritt, weil der tiefe, glatteisüberzogene, unter den Rädern knirschende Schnee es nicht anders zuließ. Der Mond strahlte in: ruhigen, weißen Kälteglanz des Win­ters, und daneben funkelten die Sterne unruhig hell, während Millionen Eis- und Schneekristalle das Licht beider flimmernd in die Luft zurückwarfen, so daß weiter Aus- und Umblick mög­lich war. Auf der weißen Decke der Felder lagen vereinzelt die toten Körper verhungerter und erfrorener Hasen, während einige noch lebende Genossen über das Glatteis rutschend den: Torf zustrebten, um vielleicht in den Höfen und Scheunen daselbst noch etwas Nahrung zu finden. Wir waren kaum eine Viertelstunde weit gefahren, als der Kutscher plötzlich an hielt und voller Entsetzen nur zurief, am Rand des Chaussee­grabens liege ein toter Mann, ob ich nicht nach ihm sehen wolle. Das geschah natürlich sofort, und zum Glück zeigte sich bei der Untersuchung, daß das Herz noch langsam und schwach schlug und sogar noch einzelne oberflächliche und un regelmäßige Atemzüge sich einstellten; auch waren, trotz der Külte und Blässe des Gesichts, die Glieder noch biegsam, noch nicht kültestarr denn sie wären dadurch wie Glas brüchig geworden so daß wir den Bewußtlosen m den Wagen und