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Illustrirte Deutsche Mo n a tsheft e.
manches der Werke des erstgenannten Meisters einer solchen Revision und Einrichtung sür das Theater unterworfen würde, wie das bei vielen Shakespeare- schen Dramen der Fall war, so ließe sich ihnen eine ebenso gute Aufnahme Vorhersagen, als die Calderon'schen und Sophokles'schen Stucke finden.
Vortrefflich ist die Darlegung Riehl's, wie die Oper, zuerst ein specifisch italienisches Erzeugnis^, erst nach und nach deutsch wurde und von einer schwachen Berthei- diguug gegen italienische und französische Einflüsse zum starken Angriffskrieg übergehenkonnte. Dieser wurde allerdings von Richard Wagner begonnen, gegen den Riehl eine so entschiedene Abneigung hegt, daß er in ihm nichts anerkennt. Und das ist ungerecht. Man mag von der Verwendung der Gaben denken und ur- theilen, wie man will — aber daß gar Vieles in sämmtlicheu Werken Wagner's nur von einem der höchst Begabten geschaffen werden konnte, dürste heutzutage wohl schwer zu bestreiten sein. Diese Wahrheit wird immer mehr und mehr anerkannt, und erst die neueste Zeit hat wieder einen wahres Aufsehen erregenden Beweis gegeben, daß es unmöglich ist, der Wagner- schen Musik grundsätzlich die Pforten der Kunsttempel, selbst der exclusivsten, zu verschließen. Die königl. Hochschule für ausübende Tonkunst in Berlin steht bekanntlich unter der Leitung von Josef Joachim, dem glorreichsten Vertreter der elastischen ausübenden Kunst, der sich in den fünfziger Jahren in einer Erklärung öffentlich von der Schule Wagner's losgesagt hat. Bei der letzten Prüfung der Opernclasse, die vor geladenen Gästen, also nur vor einem mit den Principien der Hochschule gleich- gesinnten Publikum stattfand, wurde unter Joachim's Leitung das Vorspiel und der Anfang des zweiten Actes von „Lohengrin" aufgeführt. Das Vorspiel mußte wiederholt werden, und die Sängerinnen der Elsa und Ortrud ernteten stürmischen Beifall. Diese Thatsache bedarf keines Commentars von unserer Seite. Jeder Leser kann ihn selbst erdenken von seinem Standpunkte.
Vortrefflich sind Riehl's Bemerkungen über „Don Inan" und „Freischütz", daß in diesen Sagenopern die handelnden Figuren menschliches Fleisch und Blut
und Geist haben und nur von fern die Dämonenwelt in die rein menschliche Handlung hineinragt, wie im Hamlet und Macbeth. Auch seine Darstellung der Widersprüche, in welche die Oper mit den Anforderungen der Poesie und der Musik gerätst, enthält vieles Wahre und zu Beherzigende. Aber wenn er zuletzt zu dem Schluffe gelangt, daß die Oper verschwinden und durch das Oratorium ersetzt werden wird, und von einem „politischen" Oratorium spricht, welches viel höher stände als die politische Oper, in welchem „man weit gedankenhafter motivirend vorbereiten kann als auf der Bühne", so befindet er sich in einem edlen, aber darum nicht weniger entschiedenen Jrrthum. „Tell" von Rossini ist aus dem Drama Schiller's entstanden, eine Zeit lang als „politische" Oper betrachtet, dann aber „Sonntagsoper" geworden. Das mag wohl richtig sein. Aber das „politische Oratorium" Tell wäre doch eiue noch sonderbarere Erscheinung als die politische Oper. Ueberhaupt wird ein anderes Oratorium als das auf religiöser Grundlage entstandene niemals feste Wurzel fassen und niemals allgemein in gleichem Maße wirken. Eine ausführliche Beweisführung dieses Satzes würde zu weit von dem eigentlichen Ziel dieser Studie abseits gehen müssen; doch wollen wir die Tatsachen auführen, welche den besten Beweis liefern. Die neueren Versuche von Oratorien, denen ein anderer als ein biblischer oder religiöser Text unterlag, haben öfters die Aufmerksamkeit und den Antheil des Publikums erregt, wenn sie so überaus herrliche Momente enthalten wie Schu- mann's „Paradies und die Peri", oder wenn sie den Concertsängern so effectvolle, sehr gut in der Stimme liegende und auch edel gehaltene Arien bieten wie Bruch's „Odysseus"; aber eine wahrhaft nachhaltige eindringliche Wirkung haben sie nicht erzeugt. Dagegen haben Brahm's „Deutsches Requiem" und Kiel's „Christus" einen solchen bleibenden Eindruck hinterlassen. Des genialen Rnbinstein geistliche Oper „Der Thurm von Babel", die als modernstes Oratorium vielleicht den Andeutungen Riehl's am meisten entsprechen mag, ist bei all' ihren großen Schönheiten vielen Hörern nur als „Zwitterding" erschienen.