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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 18ö0.
„Essays". Man kann mit dem von uns hochgeschätzten Verfasser nicht überall ein- ! verstanden sein und doch aus seinen Arbeiten ! Anregung schöpfen. Im Jahre 1878 hat! er einen längeren Artikel veröffentlicht: > „Die Kriegsgeschichte der deutschen Oper, ! Vorstudien zu einem Charakterkopfe der ^ Zukunft", dem wir hier eine eingehendere i Betrachtung widmen müssen, weil er eine j brennende und nie zu löschende Frage behandelt. Riehl geht von dem Grundsätze! aus, daß die Oper eine zwitterhafte Kunst- , gattung sei und auch nichts Anderes sein I könne, die Zwitterhaftigkeit sei „bedingt durch ihre Eigenthümlichkeit". Das ist wahr — imd doch wieder nicht. Ich habe lange über diesen Gegenstand nachgedacht; auch inir ist die Oper als eine niedriger stehende Kunstgattung erschienen. Schon daß die Helden und Heldinnen alle singen müssen, dünkte mir bedenklich — denn im Leben existiren sie nicht, sie sind nur ein Operngebilde. Dann die vielen Nebendinge, von denen der künstlerische Eindruck theilweise abhängt: Decorationen, Costüme, Beleuchtung, Regie, Maschinenwesen und hunderterlei derartige Mithebel — sind sie nicht geeignet, jeden reinen Kunstgenuß zu trüben? Es ließen sich viele Seiten füllen mit den Beweisen, daß die Oper kein Musikkunstwerk sei im Vergleich znm Oratorium oder zur Symphonie.
Aber nach langer, reiflicher Erwägung bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Verwerfung der Oper gleichbedeutend ist mit der Verwerfung dramatischer Kunst überhaupt, weil die meisten Bedenken, welche gegen die Oper erhoben werden können, in gleichem Maße das Drama treffen, und zwar gerade das höhere. Helden und Heldinnen, die in Versen reden, sind im Leben ebenso wenig vorhanden als singende; und nun gar „gewöhnliche" Leute aus dem Volke. Und dennoch! wer wollte es anders haben im wirksamsten dichterischen Kunstwerke, im Drama! Kann irgend ein Gebildeter der Erde sich „Wallenstein's Lager" in Prosa denken? Und es sind doch meistens recht ungebildete Soldaten, die da ihre Meinungen austauschen! Allerdings giebt es ja auch wirkungsreiche Dramen in Prosa; überall, wo die mehr alltäglichen Empfindungen angeregt werden sollen
Monatshefte.il. 2 SK. — Mai 1881. — Vierte Fol
oder wo heftigen Leidenschaften nngebän- digter Ausdruck gegeben wird, im bürgerlichen, sentimentalen oder im höheren Gesellschaftsdrama, ist vielleicht die Prosa allein anwendbar. Aber die größten Kunstwerke dramatischer Dichtung aller Nationen sind in Versen geschrieben. So lange also Gretchen im „Faust" uns entzückt als ein unvergleichliches Gebilde natürlicher Anmuth und kindlichen Ge- müthes: so lange Valentin uns als eine Gestalt erscheinen wird, in welcher das modernste Ehr- und Standesgefühl mit wahrhaft antiker Gewalt und mit wunderbarster dichterischer Schöpfungskraft dargestellt ist: so lange Niemandem die Frage einfällt, ob denn eigentlich die Beiden in Versen reden dürften, da sie gewiß im Leben nicht eine Ahnung davon hatten: so lange werden auch die im ersten Moment anscheinend gerechtfertigten Bedenken gegen singende Helden haltlos bleiben. Und so lange wir uns nicht um den Privatcharakter der Herren und Damen, welche im Oratorium singen, bekümmern, nicht ein Zeugniß des Pfarrers von ihnen verlangen, wenn sie den Heiland und die Apostel singen, nicht den Juden verbieten, in christlichen Messen und Oratorien die Hauptpartie auszuführen, so lange wollen wir auch die in letzter Zeit wieder auftauchende Sittlichkeitsfrage beim Theater ruhen lassen.
Riehl meint: „Die Oper ist die vergänglichste Kunstgattung, ihre Werke veralten am raschesten", und der Versuch, eine alte Oper von Händel oder Scarlatti im Theater aufznführen, wäre ein vergeblicher, die Mode spiele hier eine zu große Rolle. Ganz richtig! Aber die Dramen von Houwald, Müllner, Ranpach sind viel jünger als die Opern von Scarlatti, und ich möchte sehen, wie der Versuch einer Aufführung von „Isidor und Olga" oder „Das Bild", die einst volle Häuser machten, heute ausfiele. Ja selbst die viel werthvolleren Dramen von Grillparzer und Halm — sie kommen nur noch als Experimente zum Vorschein, um bald wieder zu verschwinden. Wenn aber Riehl auf Shakespeare, Calderon und Sophokles hinweist, deren Stücke noch heute aus der Bühne erscheinen, während Händel's und Scarlatti's Opern nicht gegeben werden können, so möchte ich behaupten: wenn
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