Alfred Meißner in Bregenz.
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nicht eine Thräne an der Wimper? Denkt sie an mich? Nun sinkt die Nacht. Sie ist schlafen gegangen. Alles ist still, nur das Pendel der hölzernen Wanduhr rastet nicht. Warum fährt sie aus ihrem Traum empor? Warum hebt sich die Brust so stürmisch? Warum Pocht ihr Herz?
Station um Station, und kein Ende. Wer doch am Ziele wäre! Kalte, stürmische Nacht, warum dauerst du so lange! Wo findet ein Kopf Ruhe mit so schlimmen Befürchtungen? Fort, böse Gedanken, schwere Ahnungen, Gekrächz von Todtenvögeln, fort Gedanken, die wie Stoßvögel gegen das Herz losfahren! Schweigt, klagende Stimmen, die ein Unglück verkünden!
Endlich am Ziele. Es heißt, einige Stunden im Gasthose rasten, bis es endlich tagt. Ich werfe mich wie zerschlagen auf's Bett. Ach, wer schon dort wäre!
Der Morgen kam, ich saß im bekannten Wägelchen. Je mehr ich mich dem Orte näherte, nach welchem ich so unaussprechliche Sehnsucht getragen, um so heftiger schlug mein Herz. Werde ich Dich denn heute schon Wiedersehen, Kind meines Herzens, Gegenstand so vielen Kummers, so vieler Schmerzen?
Endlich in Kranberg. Ich ließ den Wagen im Wirthshanse und schlug den Weg seitwärts ein, zur wohlbekannten Anhöhe. Da stand das Haus unter den kahlen, entlaubten Bäumen. Es fiel mir auf, daß es statt der umzäumenden Hecke eine niedrige steinerne Umfassungsmauer erhalten habe. Mein Gott! rief es in mir. Das Haus ist schon verkauft. Sie sind weggezogen. Toni ist fort. Ich schritt rasch vorwärts. Die Hausthür war unverschlossen, ich trat in den Flur und stand, von unaussprechlicher Unruhe ersaßt, vor der Thür der Wohnstube. Aus mein Pochen hieß mich eine fremde Stimme eintreten, ich setzte den Fuß über die Schwelle und stand vor einer mir unbekannten Frau.
„Ich suche Frau Erhardt" — sagte ich.
„Seit bald vier Wochen wohnen wir da", war die Antwort. „Wir haben das Haus gekauft".
„Und wo lebt Frau Erhardt?" fragte ich mit unsicherer Stimme. „Doch noch im Orte?"
„Frau Erhardt" war die Antwort, „hat schon lange fort gewollt. Wie dann der Kauf auf einmal richtig geworden ist, sind ihr ein paar hundert Gulden geblieben. Da hat es sie nicht mehr gelitten, sie bleibe keinen Tag mehr da, sagte sie. Die Tochter war schon fort, bei Verwandten. Die Verwandten haben nach Amerika gewollt und sind wirklich von B. . . . fort. Frau Erhardt mit ihnen. Aber das Schiff, auf dem sie gefahren sind, soll untergegangen sein".
Ich meinte umzusinken.
„Ja", sagte die Frau, „da hat man schauderhafte Sachen gehört! Mit Allen, die darauf waren, soll das Schiff untergegangen sein. Freilich",