Anno Fischer in lseidelberg.
springt, zeigte sich eine gelehrte Kunstdichtung, die zuletzt nur noch in gelehrten Kunststücken bestand und ihre größten Verdienste im Umfange ihrer Belesenheit, in dem Reichthum der Reminiscenz und der geschickten Technik der Verse erblickte. Je länger je weiter mußte sich eine solche Dichtung von der Art des Volkes entfernen. Das Volk sprach deutsch, seine Dichter redeten lateinisch und von Dingen, die das Volk nie empfunden und erlebt hatte, die Dichter selbst nur durch künstliche Schulzucht. Eine neue Kluft hatte sich aufgethan zwischen der gelehrten Dichtung und dem ungelehrten Volk. Die Reformation war deutsch, aber ohne das Vermögen, den Geist der Dichtung zu beleben; die Renaissance betrieb die Cultur der Poesie, aber sie war nicht deutsch; doch waren beide Epochen zur Erneuerung unserer Literatur durchaus noth- wendig und unentbehrlich: die Reformation durch die Geistesfreiheit, die ihr zu Grunde lag, die Renaissance durch die Geistesbildung, die sie besaß und mittheilte. Aber es dauerte lange, bis beide Saaten auf dem Felde der deutschen Literatur gereift waren. Die Entwicklung, die uns zum Ziel führte, ging nicht die gerade Linie, sondern nahm den weitesten Umweg. Zwischen dem griechischen Alterthum und uns stand das römische, zwischen diesem und uns standen die romanischen Nationen: die Italiener, Spanier, Franzosen; die Renaissance war von Geburt italienisch, zu uns kam sie aus der Fremde; die nächsten Erben des römischen Alterthums waren die Völker der romanischen Sprachen, deren Bildung und Lebensanschauung in den überlieferten Formen der alten Kunst ihren leichten und naturgemäßen Ausdruck fanden. Zwischen den romanischen Nationen und uns stand das uns nächstverwandte englische Volk, das mit seiner germanischen Eigenart die romanischen Bildungsformen durchdrungen, die Reformation und die Renaissance in sich ausgenommen und aus seine Art national gemacht hatte. Dies ist der weite Umweg, den der Gang des deutschen Geistes nehmen mußte, um von der Reformation der Kirche zur Reformation der Poesie zu gelangen, wir sind durch die Schule des griechischen und römischen Alterthums, durch die der romanischen Literaturen, durch die der englischen zu uns selbst gekommen. Die neulateinische Renaissance war das erste Stadium, die Vorbilder der italienischen, spanischen und besonders der französischen Dichtung das zweite, der Einfluß der englischen Literatur das dritte; dann folgte die entscheidende That: der Durchbruch zur eigenen Originalität. Auf diesem Punkte steht Lessing.
IV.
Es ist der Weg der Tradition, der Vorbilder, der Schule, auf dem wir allmählich fortgeschritten sind von Luther zu Lessiug; es hat über zwei Jahrhunderte gewährt, bis dieser Weg vollendet war. Im Uebergange vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert gab es ein Menschenalter, während dessen die deutsche Sprache in der Dichtung so gut wie verstummt war. Der Zeitpunkt, wo sie wieder zu reden begann und statt lateinischer Verse deutsche