lieber G. E. Lessing.
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zu machen versuchte, gilt als der Anfang unserer neuen Literatur: es war nicht Poesie, sondern „Poeterei", eine neue, der antiken Metrik abgelernte Verskunst, womit in dem ersten Stadium des dreißigjährigen Krieges Martin Opitz diese dürftige Epoche entschieden hat.
Die sogenannten schlesischen Dichterschulen bezeichnen im Großen und Ganzen die Entwicklung und den Charakter der deutschen Literatur während des siebzehnten Jahrhunderts; sie ist nie elender, schülerhafter, kümmerlicher gewesen, als in dieser jammervollen Zeit, worin das deutsche Volk dem schrecklichsten aller Kriege erlag und in seiner Widerstandskraft gebrochen daraus hervorging. Unter den europäischen Culturvölkern hatte unsere Literatur damals den niedrigsten Stand, sie glaubte in der Verskunst auch die Dichtkunst zu besitzen, und „der nürnberger Trichter" lehrte, wie sie in wenigen Stunden einzugießen sei. Ohne eigenen bewegenden Inhalt, ohne Tiefe und Reichthum der Seele, wie es die schülerhafte Art mit sich bringt, mußten diese Dichter an sich und ihren Werken alle die Untugenden, alle die Armseligkeiten derselben, die man jederzeit an Schülern beobachten kann, die, innerlich noch unentwickelt und unerfüllt, Gedichte machen wollen und im erkünstelten Ausdrucke, in der blühenden Dietion, im gedunsenen Stil, in der erschnappten Phrase glauben die Sache zu haben. Der Schwulst der zweiten schlesischen Dichterschule ist sprichwörtlich geworden. Aus solchen Zeugungskräften konnte nur eine solche Mißgeburt hervorgehen. Erschien es doch wie eine wohl- thätige Gegenwirkung, als gegen die Wassersucht jener Dichter die sogenannten Wasserpoeten auftraten, die wenigstens nur die ganz gemeine Prosa reimten. Wir wissen Wohl, daß auch in dieser Zeit des Elends die poetische Kraft in unserem Volk nicht völlig erstickt war, daß sie in der religiösen kirchlichen, und in der satirischen und epigrammatischen Dichtung, vor Allem in dem Roman des Simplicissimus, der in seiner Schilderung selbsterlebter Zeit- und Sittenzustände einer Oase in der Wüste glich, sich noch regte; aber diese vereinzelten Erscheinungen reichten nicht hin, den Gang der Literatur zu ändern.
Als das achtzehnte Jahrhundert begann, hatte die deutsche Literatur noch nicht die Reife und Mündigkeit erreicht, mit der die Schulzeit endet, sie blieb noch auf der Bank, aber sie kam aus einer schlechten Schule in eine bessere und machte für ihren damaligen Bildungszustand einen wirklichen Fortschritt, als der Leipziger Professor Gottsched sie in die Lehre nahm. Dieser Mann war der Präceptor, dessen sie bedurfte und der mit fast unbestrittenem Ansehen das Jahrzehnt von 1730—1740 beherrscht hat. So einleuchtend seine Verdienste sind, wenn man von Hoffmann und Lohenstein herkommt, so einleuchtend ist seine Nichtigkeit, wenn man von der Höhe Lessings oder Goethes auf ihn herabsieht. Ließe sich eine nationale Literatur sabriciren oder wie ein ordentlicher Hausstand regeln und einrichten, indem auf der einen Seite verbrauchter und unnützer Hausrath abgeschasst, auf der anderen nöthiger und nützlicher Vorrath gesammelt und angeschafft wird, so
Nord und Süd. XIII. 35. 14