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Ueber G. E. Lessing.
Es folgen die Jahre der beginnenden Reformation (1752—1760), die Lesfing in Berlin, Leipzig und wieder in Berlin zubringt. Die hierhergehörigen, dem Durchbruch zustrebenden Werke sind: Miß Sara Sampfon, das erste bürgerliche Trauerspiel in deutscher Sprache, die neue Fabeldichtung, die Abhandlungen über die Fabel, der Philotas, der Versuch einer neuen Faustdichtung und seine „Literaturbriefe" aus den Jahren 1759 und 1760. Wir sind in der Mitte des siebenjährigen Krieges, dessen Schauplatz Lessing betritt, als er gegen Ende des Jahres 1760 Berlin verläßt und als Secretär des Generals Tauentzien nach Breslau übersiedelt.
Die beiden nächsten Jahrzehnte zeigen ihn aus seiner Höhe; er verlebt das erste (1760—1770) in Breslau, Berlin und Hamburg, das zweite als Bibliothekar in Wolfenbüttcl, die einzige amtliche Stellung, die er gehabt hat.
Im Jahre des Hnbertsburger Friedens (1763) dichtet er Minna von Barn Helm, die er in Berlin vollendet und 1767 veröffentlicht, dann folgen Laokoon (1766), die Hamburger Dramaturgie (1768), die antiquarischen Briefe (1768—1769): dies sind die unsterblichen
Werke seines vorletzten Jahrzehnts. Gleichzeitig erscheint Wieland in seinem Element, Herder in seinen Anfängen.
In der Wolscnbüttler Periode vollendet Lessing Emilia Galotti (1772) und Nathan den Weisen (1774), dem der „Anti-Goeze" vorhergeht (1778) und „die Erziehung des Menschengeschlechts" als vollständiges Werk nachfolgt (1780). Es ist das Jahrzehnt, worin Goethes Gestirn bis zu seiner klassischen Höhe emporsteigt; in dieser Zeit entstand Götz, Werther, Faust, Clavigo, Stella, Egmont, Iphigenie und die Anfänge des Tasso. Während Lessing den Nathan in seiner letzten Gestalt vollendet, dichtet Goethe die Iphigenie in ihrer ersten; im folgenden Jahre beginnt er den Tasso.
VII.
Nachdem wir den Zustand der deutschen Literatur und die darin enthaltene reformatorische Aufgabe, die Lessing vorfand, dargelegt, den Punkt, wo er einsetzt, bestimmt und den Entwicklungsgang, den er durchläuft, in seinen Umrissen bezeichnet haben, entsteht uns die Frage: welches waren die Kräfte, die er besitzen und in's Feld führen mußte, um jene Ausgabe zu lösen? Wir wollen Lessings reformatorischen Charakter dergestalt zu entwickeln suchen, daß unsere Auseinandersetzung mit jedem Schritt tiefer in die geistige Persönlichkeit des Mannes eindringen und dieselbe in dem ganzen Umfange ihrer Vermögen durchmessen soll.
1 .
Jede reformatorische That fordert in dem Gebiet, wo sie erscheint, eine Bemeisterung der vorhandenen und herrschenden Bildungszustände, die man