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Au n <? L i s cher i ire i d e l berg.
ererbt, erlebt haben und in sich tragen muß, um sie überwinden und verändern zu können. Hier gilt das faustische Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!" Man muß unter der Macht der überlieferten Bildung stehen, um über dieselbe hinauszudringen, man muß sich selbst im Innersten erneuen, um die Welt verjüngen und das Alte als etwas Ausgelebtes verwerfen zn können. Dann erst kommt das andere faustische Wort zu seiner Geltung: „Du alt Geräthe, du wirst nicht gebraucht, du stehst nur hier, weil dich mein Vater brauchte!" — Luther würde nie der Reformator geworden sein, der er war, wäre er nicht ein frommer, vom kirchlichen Glauben durchdrungener Mönch gewesen. Ich will gleich die Anwendung aus Lessing machen. Seine Aufgabe war die Wiedergeburt der deutschen Literatur, die Befreiung von der überlieferten fremdländischen Renaissance, von der erlernten, nachgeahmten, gelehrten Bildung, von der Büchergelehrsamkeit und der Poesie, die im Buche steht. Er mußte diese Gelehrsamkeit besitzen und zwar in einem Grade, daß er sie bemeistern, ihre kostbaren Güter vom Ballast, ihren fruchtbaren Reichthum von der gelehrten Bettelhaftigkeit wohl unterscheiden konnte; er mußte so reich sein, um wegwerfen zu dürfen. Es ist sehr leicht und darum völlig wirkungslos, die Gelehrsamkeit zu verachten, wenn man sie nicht hat. Das Bücherstudium, die gelehrten und philologischen Kenntnisse, ausgebildet bis zu dem virtuosen Vermögen, sich in der Bücherwelt schnell und sicher zu orientiren, mit einem Wort, alle die Eigenschaften, die nicht den gewöhnlichen, sondern den großen Literator machen, gehörten zu dem Rüstzeug, womit der Reformator, der Lessing werden sollte, gewasfuet sein, zu den Kräften, die er in's Feld führen mußte. Er ist ein Gelehrter im eminenten Sinne gewesen, in einem erstaunlichen Umfang und mit der noch größeren Fähigkeit, den erworbenen Reichthum in jedem Augenblick, wo es nöthig schien, zn vervielfältigen. Unsere genialen Dichter, die nach ihm kamen, stehen in dieser Rücksicht weit hinter Lessing zurück, sie bedurften auch eines solchen Rüstzeugs nicht mehr. Selbst Goethe anerkennt in einem seiner Urtheile über Lessing „die ungeheure Cuktur" dieses Dichters, „gegen die wir jetzt schon wieder Barbaren sind". Noch als Student hatte sich Lessing eine solche Orientirung im Felde der Gelehrtengeschichte verschafft, daß er im Stande war, die Recension eines Gelehrtenlexikons zu schreiben und demselben eine Menge Fehler und Unrichtigkeiten nachzuweisen.
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Er wäre dieser große Literator nicht gewesen, wenn er nichts als ein gelehrter Vielwisser hätte sein wollen. Er las, um zu erkennen, eingewurzelte Jrrthümer auszusiuden und zu berichtigen, Klarheit zu schassen, wo Unklarheit und Verwirrung herrschte, richtige Vorstellungen an die Stelle der falschen zu setzen. Diesen Zug theilte er mit Pierre Bayle, dessen kritisch-historisches Wörterbuch eine der ersten und reichsten Fundgruben seiner