Heft 
(1880) 38
Seite
211
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lieber G. E. Lessing.

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das Klarste erleuchten. Goethe ist oft und mit Recht eine hellenische Natur genannt worden, er war es ohne alle Schule griechischer Gelehrsamkeit- Shakespeare war keine hellenische Natur und kein griechisch Gelehrter, aber durch das Genie und die Macht seiner Schöpfungen ein den Alten eben­bürtiger Dichter. Denn die Verwandtschaft schöpferischer Naturen ist allemal größer und echter, als alle durch die Schule gemachte und erkünstelte Aehnlich- lichkeit. Diese in der Originalität und im Genie begründete Verwandtschaft erkannte Lessing und wies darum zugleich auf die Alten und Shakespeare. Denn ein Genie kann nur an einem Genie entzündet werden und am leichtesten an so einem, das Alles blos der Natur zu danken zu haben scheint und durch die mühsame Vollkommenheit der Kunst nicht abschreckt". Nach dem Oedipus des Sophokles muß in der Welt kein Stück mehr Gewalt über unsere Leidenschaften haben, als Othello, als König Lear, als Hamlet u. s. w." Wir werden den Griechen und Shakespeare gleichkvmmen, nicht wenn wir sie nachasfen, sondern wenn wir sind, wie jene waren, d. h. wenn wir in unserer eigensten Art bleiben und darstellen, was wir sind und erleben. Das ist die Bedeutung der nationalen Dichtung, die Lessing gefordert und geleistet hat, der Weg, den er dem deutschen Genius zeigte; dieser ist ihm gefolgtund aus der Spur der Griechen und des Briten ist er dem besseren Ruhme nachgeschritten".

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Die Unterscheidung zwischen Originalwerk und Nachahmung, zwischen echtem und unechtem Kunstwerk, wahrem und falschem Verständniß der Kunst­gesetze ist die Sache einer solchen kritischen Einsicht, die nicht bei dem Studium einzelner Werke stehen bleiben kann, sondern nothwendig weiter führt. Nicht weil die Kunstwerke griechischer Herkunft sind, sollen sie unser Leitstern sein dies wäre Autoritäts- und Schnlglaube, sondern weil sie im höchsten Sinne wahr d. h. einfach und naturgemäß sind. Diese Einsicht, die den Weg zu den letzten natürlichen Quellen sucht und nicht ruht, bis sie entdeckt sind, erleuchtete unseren Lessing und gab seinem kritischen Geist die Richtung: sie bewog ihn von der französischen und römischen Fabel zur griechischen, von Lafontaine und Phädrus zuAesop", von der französischen und römischen Tragödie zur griechischen, von Corneille und Seneca zu Sophokles, von der französischen Kunstlehre zur griechischen, von der falsch verstandenen Poetik des Aristoteles zu dessen urkundlicher Lehre zurück­zugehen und diese in Rücksicht der Tragödie aus dem Wesen der Sache und der Natur der menschlichen Affecte selbst zu begründen. Er sah sich vor die Frage gestellt: worin besteht die Naturwahrheit der Kunst? Er mußte der Sache auf den Grund kommen und das Kunstwerk aus seinen einfachsten und ursprünglichen Bedingungen, aus der menschlichen Natur selbst erklären und entstehen lassen. Darin lag die Probe der Rechnung. Wie entsteht die Fabel, das Epigramm, das Drama, die Tragödie? Wie unterscheidet sich die