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Wilhelm Lübke in Stuttgart.
ähnlich wie beim Laokoon, drei Momente einer Handlung in eine Scene zusammengefaßt, die an dramatischer Wucht jenem berühmten Meisterwerke in Nichts nachsteht. Der große Künstler von Pergamon hat nun aber, zur mannigfaltigen Belebung seiner Composition, den Göttern ihre begleitenden Thiere beigegeben, die am Kampfe theilnehmen. So sehen wir denn auf einem kleineren Fragmente den Adler des Zeus mit einem Blitz in den Fängen herbeischweben; weiterhin auf einem größeren Bruchstück aber einen anderen Adler ergrimmt gegen einen sich emporbäumenden Giganten-Schlangenkopf anstürmen und der Bestie die scharfe Kralle in den Unterkiefer des weit geöffneten Rachens hineinschlagen: ein Motiv von so packendem Realismus, daß wir unwillkürlich, als fühlten wir selbst den Schmerz, zusammenzucken. Nicht minder energisch ist der zu diesem Schlangenkörper gehörende Gigant, der sich leidenschaftlich ausrichtet und eine Muskulatur zeigt, die an Gewalt der des Laokoon nichts nachgiebt, während sie derselben an einfacherer Naturwahrheit überlegen ist. Dies Fragment behauptet auch deshalb einen hohen Werth für die Erkenntniß des Aufbaues des Denkmals, weil an seinem Fuße die Treppenstufen eingeschnitten sind, so daß man es an die rechte Treppenrampe setzen muß. Daß es aber vielleicht in der Nähe der Zeusgruppe anzunehmen ist, dürste sich aus dem Adler ergeben, der doch wohl der Umgebung des höchsten Gottes angehört hat.
Besäßen wir nichts von dem Ganzen, als jene einzelne Zeus-Gruppe, so würden wir nicht im Zweifel darüber sein können, daß wir es mit einem Kunstwerk ersten Ranges zu thun haben, das im Rhythmus der Anordnung, in schwungvoller Kühnheit der Bewegungen, in großartiger von tiefem Ver- ständniß des organischen Lebens getragener Formbehandlung unter den antiken Werken seines Gleichen sucht. Aber fast ebenso vollständig ist uns glücklicherweise die Gruppe der Athens erhalten, welche in Aufbau und Anordnung sich als das Gegenüber der Zeusgruppe zu erkennen giebt, an künstlerischer Bedeutung ihr ebenbürtig. Es wäre nicht undenkbar, daß die Zeusgruppe an der Front des Gebäudes die Hauptstelle rechts von der Treppe, die Athenagruppe dann den entsprechenden Platz zur Linken eingenommen hätte. Doch bemerke ich ausdrücklich, daß dies einstweilen nichts Anderes ist als eine Vermuthung.
Athena, deren Brust die Aegis bedeckt, eilt in kühnem Ausschreiten heran, die hohe Gestalt von bauschenden Gewandfalten umrauscht, und packt mit der Faust einen von ihr zu Boden geworfenen Giganten am Schopf, der mit der Rechten ihre Hand loszumachen sich abmüht. Athenas Kopf ist zerstört, aber der jugendliche bartlose ihres Gegners, dessen schmerzdurchzucktes Antlitz von wildem Lockenhaar umrahmt wird, hat sich aus verschiedenen Splittern glücklich zusammensetzen lassen. Er liefert den Beweis von dem ergreifenden tragischen Pathos, dessen der Künstler dieses Werkes fähig war. Um diese Gestalt noch ganz besonders hervorzuheben, hat er ihr ein doppeltes Flügelpaar gegeben, das an die phantastischen Flügelwesen der assyrischen Kunst