Issue 
(1880) 38
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Rudolph, Fürst zu Liechtenstein.

Die Gräfin fühlte am Morgen nicht den Muth, zu fragen, wer die beiden Männer gewesen waren, welche die nächtliche Fahrt unternommen hatten. Sie setzte die Reise fort. Peinliche Ahnungen begleiteten sie über die lange, noch zurückzulegende Strecke. Schon dämmerte der Abend, als der Wagen in Okanys Schloßhofe hielt.

Irene stürzte in die ausgebreiteten Arme ihrer Freundin Agnes.

Sie fühlte diese Begegnung wie eine unerwartete Wohlthat.

Arme Tante", sagte Daniels Schwester,wie wirst Du diese Räume wiederfinden?!"

Um des Himmels Willen, was ist geschehen; ist Okany todt?"

Trauriger als das" erwiderte jene mit Fassung. Am Treppenhause angelangt, vernahmen sie ein vielstimmiges Geflüster.

Waren das nicht dieselben dunkelen Gestalten, die auf dem Grabe umherwankten in der nächtlichen Einöde? dachte Irene. Aber es waren lebendige greifbare Menschen, die das Haus vom Eingänge bis zu Okanys Schlasgemache füllten. Verwandte, Bekannte, Diener, Leute vom Lande, kurz, Alles, was irgendwie mit dem Grafen in Verbindung stand. Sie drängten sich aus dem Wege, als sie der Gräfin ansichtig wurden, und grüßten sie ehrfurchtsvoll.

Nicht todt? aber trauriger als das!" wiederholte Irene für sich in Gedanken, indem sie die Treppe hinaufschritt und ihr Kind heftiger an sich preßte. Fast hätte ihr Fuß an einen Knieenden gestoßen, der sich in der Mitte des Weges befand. Daniela streckte die kleinen Finger nach der Gestalt aus. Irene hielt einen Augenblick betroffen inne. Es war Lazar, der nach dem Saume ihres Kleides langte und ihn küßte.

Derselbe Läzür, der so vielen Unheiles Urheber gewesen; fetzt so demüthig, ja unterthänig!-

Er geleitete die Gräfin an das Krankenlager ihres Gatten. Eine Hand­bewegung und ein Blick aus dem halb gebrochenem Ange, das der Graf mühevoll zu ihr aufschlug, sollten Irene sagen, daß er ihrer Anwesenheit bewußt sei. Es ward ihr klar, daß ein Sterbender vor ihr lag. Sie kniete nieder und hielt ihm das Kind entgegen.

Nach einigen Minuten lautloser Stille verrieth eine krampfhafte Anstrengung, die Okany mit dem Arme machte, den Versuch, einen Wunsch zu äußern.

Seine Züge verzerrte der Schmerz. Sprechen konnte er nicht. Dicht am Bette stand ein Tisch, aus dem zwei beschriebene Bogen Papier lagen, Irene suchte vergebens ihres Mannes Willen zu errathen. Sie erhob sich; sie beugte sich über ihn. O! Was ist es für eine Pein, ein Leben ent­fliehen zu sehen, welches nur ein unauflösliches Räthsel hinterläßt! Wollte er die kleine Daniela küssen; wollte er sie segnen? Wollte er Verzeihung erflehen, im letzten Augenblicke? Der arme Mann!

Sie legte die Hand auf seine Stirne. Sie war in Todesschweiß