Heft 
(1878) 05
Seite
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Die Aröeiterrrmußen in den Bereinigten Staaten. G°k7"7/vi°1»i

Von Theodor Kirchhofs in San Franzisko.

! Die letzten Arbeiterunruhen bilden eine der ernstesten

Episoden im Volksleben von Amerika, deren tiefgehende Be­deutung jeden, dem das Wohl und Wehe dieses Staatenbundes am Herzen liegt, mit Besorgniß erfüllen muß. Die bedeutende ! örtliche Ausdehnung der großenStrikes", nicht minder wie ! die Heftigkeit derselben, haben hier bis jetzt kein Seitenstück

- gehabt. Wie ist es möglich gewesen, daß sich unter einer sich

! im allgemeinen dem Gesetze stets willig unterordnenden und intelligenten Arbeiterbevölkerung, wie die der Vereinigten Staaten es ist, eine derartige zügellose Gesetzwidrigkeit mit Blitzesschnelle verbreiten konnte? Wen trifft die Schuld dieser unerhörten rohen Exzesse? Die Arbeiter oder das Kapital? Oder war es etwa nur das Verbrecherelement, das die Un­ruhen benutzte, um einen Karneval der brutalsten Ausschrei­tungen zu feiern?

i Bekanntlich befinden sich die großen eisernen Verkehrs-

^ Wege der Vereinigten Staaten in den Händen von gewaltigen

l Korporationen, rücksichtslosen Monopolisten, deren ganzes

Streben darauf gerichtet ist, sich schnell zu bereichern. Diese Gesellschaften üben auf die innere Politik des ganzen Landes und der Einzelstaaten einen außerordentlichen Einfluß. Um großartige Subsidien und Maffenschenkungen von werthvollen Ländereien zu erlangen, schämen sie sich nicht, die gemeinsten Mittel in Anwendung zu bringen. Bestechungen, niedere poli­tische Umtriebe und andere verwerfliche Einflüsse auf die Gesetz­geber des Landes gelten als erlaubte Mittel, um die an- gcstrebten Ziele zu erreichen. Die durch den Bürgerkrieg kolossal angewachsene Schuldenlast des Landes wurde fast ganz dem Mittelstände aufgebürdet, das Kapital häufte sich mehr und mehr an und begann auf den Arbeiter mit einer Art von souveräner Verachtung herabzuschaueu. Dabei herrschte unter den Monopolisten ein gemeiner Brotneid. Keiner gönnte dem anderen seinen Reichthnm und eine Korporation suchte die andere zu ruiniren. So entstanden die sogenanntenEisen­bahnkriege", wobei die Bahnen, deren Bau bereits das Dop­pelte und drei Mal so viel gekostet hatte, als er hätte kosten sollen, immer tiefer in Schulden gerietheu, während die Herren Eisenbahnmagnaten ihrem Ehrgeiz fröhnten und sich mehr und mehr bereicherten. Zum Besten der Eisenbahnen, hieß es dann, müsse gespart werden; die Ersparnisse wurden aber einfach den Arbeitern aufgebürdet, indem man ihre Löhne reduzirte. i Die Arbeiter, welche noch vor zwei Dezennien in Amerika

eine im Vergleich mit ihren europäischen Brüdern beneidens- werthe Stellung einnahmen, sahen ihren Erwerb mehr und . mehr geschmälert. Sie hofften indessen, daß die alte gute ' l Zeit allmählich wiederkehren würde und ertrugen die Lohnherab- ' setzungen mit lobenswerthcr Standhaftigkeit. Daß sie unter ' der allgemeinen Geschäftsstockung der letzten Jahre mit leiden müßten, sahen sie ein, sie bequemten sich daher, wenn auch ' nur über ihr Schicksal grollend, der veränderten Erwerbslage an.

Da wurde ein Erlaß der Baltimore- und Ohiobahn be­kannt gemacht, der die lange genährte Unzufriedenheit der Arbeiter plötzlich alle Schranken zerreißen ließ. Es handelte sich um eine Lohnherabsetzung von 10 Prozent, die alle An- ' gestellten jener Bahn treffen sollte, deren Tagelohn mehr als ! einen Dollar betrug. Nun waren bereits im August 1876 p die Löhne der Heizer und Bremser um fünfzig Cents pro Tag herabgesetzt worden, die neue Herabsetzung der Löhne traf sie ' daher doppelt hart, zumal bei der gegenwärtigen Vertheuernng l aller Lebensmittel. Da sich auch andere große Eisenbahn­korporationen dieser Maßregel anschlossen, so wurde sie die - nächste Ursache zu den großen.Strikes", welche sich von Bal­timore aus wie ein schnell dahineilendes Prairiefener von Stadt zu Stadt bis nach dem fernen Westen fortpflanzten und in San Franzisko einen ganz unprovozirtcn Angriff des Pöbels ^ nicht der Arbeiter! auf die Chinesen Hervorriesen. Das Verbrecherelement, welches in den vom Strike betroffenen großen Städten des Ostens angehäust war, machte sich auch dort die bon den Arbeitern begonnene Bewegung zu Nutzen. Die da-

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selbst verübten Brandstiftungen, Plündereien und in blutige Kämpfe ausartenden wüsten Excesse sind zum größten Theil durch dasselbe veranlaßt worden.

Der erste blutige Zusammenstoß zwischen denStrikers"und den Milizen fand am 19. Juli in Martinsburg in Westvirginien statt und wiederholte sich bereits am folgenden Tage in Bal­timore in größerem Maßstabe. In den Straßen dieser Stadt kam es zu einem blutigen Kampfe zwischen einem Marylän- der Milizregiment und den Aufrührern. Die Stadt hat es wohl nur dem ganz planlosen Vorgehen der aufrührerischen Volkshausen zu verdanken, daß ihr ein ähnliches Schicksal er­spart blieb, wie es kurz darauf Pittsburg ereilte. Die ganze Linie der Baltimore- und Ohio-Eisenbahn befand sich bald in den Händen der durch die Kämpfe in Baltimore und Martinsburg entflammten Arbeiter. Allenthalben waren die Bahnhöfe von zügellosen Menschenhaufen umlagert und wurden theilweise zer­stört. Der Verkehr war, mit Ausnahme einiger weniger Post­züge, denen das Geleise frei gelassen wurde, ganz und gar unterbrochen, und an verschiedenen Punkten fanden blutige Zusammenstöße zwischen den Aufrührern und den Milizen statt. Der Gütertransport hatte ganz aufgehört. In wildem Durch­einander standen die zusammengeschachtelten meilenlangen Fracht­züge auf den Seitengeleisen oder lagen umgestürzt und zer­stört mit den Lokomotiven auf und neben dem Bahnkörper. Die Heizer, Weichensteller, Bremser, Zug-, Lokomotivenführer, Ingenieure re. wurden gezwungen, ihre Züge im Stich zu lassen, und diejenigen Arbeiter, welche sich nicht freiwillig den Sinkenden angeschlossen hatten, wurden mit Gewalt an der Aus­übung ihrer Dienstpflicht verhindert.

Da der Arbeiteraufruhr immer größere Dimensionen an­nahm und sich der Strike schnell über viele Hauptbahnen im Osten der Union bis nach Chicago und St. Louis und südwärts bis nach Texas verbreitet hatte, so daß Fabriken aller Art zum Stillstand gezwungen wurden, die Produktion in den Kohlen­bergwerken aufhörte und die fortgesetzten Excesse in eine groß­artige Arbeiterrevolution auszuarten drohten, schritt die Central­behörde in Washington energisch gegen die Aufrührer ein und unterstützte die Einzelstaaten mit der ganzen disponibel Bun­desmacht, um den Aufruhr nieder zu werfen. Aber es be­durfte der größten Anstrengungen von den mit der Militär­macht und der Lokalpolizei zusammenwirkenden Bürgern, um der gesetzwidrigen Bewegung Herr zu werden.

Am schlimmsten sah es auf den großen Bahnlinien aus, welche den Staat Pennsylvanien durchkreuzen. Hier fanden die Sinkenden eine zu Gewallthätigkeiten besonders aufgelegte Be­völkerung unter den nach tausenden zählenden Arbeitern in den Kohlen- und Petroleumdistrikten und den zahlreichen Fabriken. Das Land befand sich bereits seit längerer Zeit in großer Auf­regung durch die von der sogenanntenMolly-Maguireband e" in der pennsylvanischen Kohlenregion begangenen Gewaltthätig- keiten und Mordthaten. DieseMolly-Maguires" waren ein Geheimbund, der die Minenarbeiter bei mehreren kleineren Strikes, die bereits früher stattsanden, zwingen wollte, ganz nach ihrem Willen zu handeln. Die Bevölkerung sympathisirte trotzdem mit jenen gesetzlosen Banden und legte den Behörden, welche gegen dieselben einschritteu, alle möglichen Schwierig­keiten in den Weg. Mannigfache vergebliche Anstrengungen wurden gemacht, die Begnadigung der Missethäter zu erlangen, bis endlich eine Anzahl derselben schwere Kerkerstrafen erhielten und zehn der Anführer in Philadelphia den Galgen besteigen mußten. Der Strike der Arbeiter an der Baltimore- und Ohio­bahn fiel daher in Pennsylvanien wie ein Funke in ein'Pulver­faß und fand alsbald die ausgedehnteste Nachahmung.

Um den Zuzug von Truppen zu verhindern, rissen die Arbeiter an den pennsylvanischen Bahnen an vielen Stellen die Schienen auf und zerstörten die Brücken. Die mit Milizen ange­füllten Waggons wurden, wo es sich machen ließ, während der Fahrt von den Schienen geworfen und öfters mit Gewehrfeuer begrüßt. Sowohl die Arbeiter als der Pöbel hatten ihr be-