Heft 
(1878) 09
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während seine Tochter am Abend mit Brot und Wurst vorlieb nahm. Ich Passe. Diese ganze Familie ist eine wahre Schande für uns und man freut sich ordentlich, daß einmal ein anständiges Mädchen aus ihr hervorgegangen ist. Na, wir sind im großen und ganzen Gottlob angesehen genug, um auch die Heinersdorfs und Roggenfelds mitlaufen lassen zu können. Nach außen wahrt ja übrigens der Dorndreher den Anstand. Sagen Sie, Grünhof, wann kommt denn der neue Acciseverwalter?"

In der Enfilade erklang der Schritt des Grafen. Alice floh aus dem Zimmer wie ein gehetztes Reh.

Als die Gäste nach Mitternacht aufbrachen, begleitete der Graf sie bis an die Wagen und lehnte sich, als sie fortfnhren, schwer auf die Brüstung der Rampe. Der Wind hatte sich gelegt, aber es war eine kalte Nacht, und die Sterne blitzten so frostig wie Dia­manten. Der Graf lauschte dem Rollen der Wagen, bis es in der Ferne ver­klang. Als er nichts mehr hörte als das Schweigen der Nacht, richtete er sich auf und wandte sich der Hausthüre zu. So blieb er eine Weile stehen.

Dann eilte er auf den Spitzen der Füße die Treppe hinauf und hielt erst an Alicens Thüre still.

Er war sehr leise gegangen, aber er war doch gehört und sein Schritt er­kannt worden. Die Thüre ging auf, und Alice lag an sei­ner Brust.Nimm, mich, Du Einziger schütze mich, rette mich, thue mit mir, was Du willst."

Der Graf hör­te unten die mit dem Abräumen der Spieltische fertig gewordenen Diener.

Morgen nach Tisch auf dem Burgberge," flüster­te er, riß sich los und eilte hinab.

Am Morgen lag dichter Nebel über der Landschaft, so daß man kaum ein halbes Dutzend Pferdelängen weit sehen konnte. Als der Graf zu Pferde stieg, blickte die Gräfin, die die ganze Nacht schlaflos verbracht hatte, zu ihm nieder.Ja, der alte Freund hat recht," sagte sie halblaut,es war unrecht von mir, ihn zu verurtheilen, ehe ich ihn gehört habe. Sobald er zurückkehrt, will ich mit ihm sprechen."

Der Graf verbrachte den Tag in Hallermünde. Um die zehnte Stunde sanken die Nebel, und ein herrlicher windstiller Herbsttag breitete sich über den Strom, die Felder und die Waldungen ans. Als der Graf sich an der südlichsten Grenz­mark der Felder befand, hörte er aus weiter Ferne Hnnde- gebell, Hörnerklang und hin und wieder einen Schuß. Dort sauste irgend eine fliegende Jagd in ausgelassener Waidmanns­freude durch Busch und Brache; von Stoppel zu Stoppel zogen

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Die Waise.

Illvstrirt von Paul Thumann.

Es fliegen zu ihrem heimischen Nest Die Vöglein durch Wald und Feld; Ich bin eine Waise und steh' allein In der weiten, weiten Welt.

sich Spinngewebe, die in allen Farben des Regenbogens glänz­ten; aus dem erntereifen Haferfelde schlüpfte ein Hase und äugte, die Löffel hin- und herbewegend, nach der Gabelweihe hinauf, die im blauen Aether ihre Kreise zog. Georg stieg vom Pferde, warf sich die Zügel über den Arm und ging langsam weiter. Wie ist die Welt so frisch und erquickend und schön, dachte er, für den, der schuldlos durch sie dahinschreitet!

Als der Graf unmittelbar vor Tisch zu Hause eintraf, fand er den alten Boniteur vor, der wieder auf ein paar Tage gekommen war. Der Alte erzählte während der Mahlzeit mancherlei, so daß der Graf nur seine Unruhe zu bezähmen hatte. Alice war nicht erschienen, sie hatte sagen lassen, sie habe Kopsweh.

Ich werde Sie noch ein wenig allein lassen," sagte der

Graf, als sie den Kaffee eingenom­men hatten.Ich habe mir den För­ster mit einem eben dressirten Hunde an den Waldrand be­stellt und will sehen, ob ich ein paar Hüh­ner schießen kann."

Gleich darauf sah die Gräfin, die auf der Veranda geblieben war, ihn mit der Flinte in der Hand durch den Park gehen. Ich werde heute Abend mit ihm sprechen, dachte sie.

Der Graf durch­schritt rasch den Park und hatte bald das Pförtchen erreicht, das in der Rich­tung nach dem Burg­berge auf das Feld führte. Hier blieb er stehen, ließ die Flinte sinken, lehnte sich über die nied­rige Umzäunung und blickte hinüber nach dem Burgber­ge. Pflicht, Ehre, Vernunft, Mitleid liefen noch einmal Sturm auf seine Leidenschaft. Wenn er jetzt noch umkehr­te, jetzt in der letzten Stunde umkehrte, konnte noch alles gut werden. Noch war nichts geschehen, was die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rettungslos zer­trümmerte, wenn er aber diese Thür durchschritt, war alles verloren. Und doch und doch! Es überkam ihn das Ge­fühl, das er sonst gehabt hatte, wenn er beim Nennen das schwerste Hinderniß nahm. Eine falsche Bewegung, und er konnte den Hals brechen, aber fort mit dem Gedanken, nur an das Ziel, an das Ziel.

Georg stieß die Pforte auf und erhob das Gewehr. Die Bewegung war so jäh, daß der Hahn der Flinte von dem Strauchwerk, aus dem der Zaun geflochten war, aufgerissen wurde und klappernd gegen die Versicherung schlug.

Das hätte leicht aller Unsicherheit ein Ende machen können, dachte der Graf und betrat das Brett, das hier über den Um­wallungsgraben führte. Er schritt aber nicht hinüber, er blieb stehen und blickte zurück auf den Zaun. Wäre die Versicherung

Du lieber Engel Gottes du,

Nimm mich doch au dein lserz,

Und wenn mich keiner lieben kann, Trag du mich himmelwärts!

Aus:Abseits vom Wege". (Berlin, Alex. Duncker.)