Heft 
(1878) 09
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auf die Telegraphenstation geschickt, aber sie können trotzdem nicht vor morgen Mittag hier sein. Nun verlangt dieser Hunde­sohn von Wirth, daß die Todte aus dem Hotel geschafft wird. Ich war so wüthend, daß ich noch nicht begreife, wo ich die Selbstbeherrschung herbekam, und ihn nicht zu Boden schlug. Na ja! Wer will auch an einer Leiche Streit haben!"

Der Doktor warf sich aus das Kissen und schluchzte laut.

Der Fremde war tief erschüttert.Aber, bester Doktor," sagte er,der Mann wird doch nicht verlangen, daß Sie die Todte ins Freie schaffen?"

Es währte eine Weile, bis der Doktor sich so weit gefaßt hatte, daß er antworten konnte.Nein," sagte er,er will sie in eine Scheune bringen mein Jnachen in eine Scheune! Daß Gott erbarm als ob sie im Leben noch nicht genug gelitten hätte!"

Der Fremde erbot sich, mit dem Doktor bei der Todten zu wachen. Der Doktor erhob sich, wischte sich mit dem Tuch die Thränen aus den Augen und sagte:Kommen Sie, Sie sind ja ein Landsmann; gegen Sie wird auch Amalie nichts haben." Sie stiegen langsam die knarrenden ächzenden Treppen hinab. Der Doktor öffnete in der ersten Etage eine Thüre, und beide traten ein.

Eine große, finster blickende Frau trat ihnen entgegen.

Ter Herr ist ein Landsmann, Amalie," sagte der Doktor lettisch,und er wird uns helfen, der gnädigen Frau die letzte Ehre anthun." Der Name des Fremden war Amalie bekannt. Gottlob, endlich einmal einer von uns unter diesen Deutschen und Heiden!" rief sie ebenfalls lettisch.

Es war ein großes dreifenstriges Zimmer. In der Mitte stand ein Bett, und auf diesem lag, ganz in weiße Tücher ge­hüllt, die Todte. Rechts und links vom Kopfende des Bettes brannten ans kleinen Nachttischchen ein paar Kerzen. Das Ge­sicht der Todten trug einen unendlich lieblichen, kindlichen Aus­druck; der Fremde hatte nie ein schöneres Antlitz gesehen.

Es wurde leise an die Thüre geklopft. Der Doktor öffnete, und der Wirth und sechs Kellner traten mit einer Tragbahre ein. Sie waren alle im Frack, aber sie hatten die Stiefeln abgelegt.

Die Matratze wurde nun vorsichtig aus dem Bett gehoben und auf die Tragbahre gelegt. Amalie sprach ein kurzes lettisches Gebet, dann ging der Wirth mit zwei Lichtern voran, die Kellner hoben die Leiche auf, und der Zug bewegte sich langsam und unhörbar über den Korridor und die Treppe hinab über den Hof in einen scheunenartigen Raum, der im Winter, wenn das Hotel geschloffen war, als Tanzsaal diente. Ter Wirth hatte das für die Musikanten bestimmte Podium in die Mitte des Saales rücken lassen, man holte auch das Bett herunter und stellte es ans die Erhöhung. Dann legte man die Todte auf das Bett und stellte kleine Tischchen, auf denen Kerzen brannten, rings um sie her.

Als alles fertig war, wollte der Wirth die Fenster ver­hängen, aber Amalie stieß ihn zurück.Die gnädige Frau schläft nicht bei verhängten Fenstern!" Ter Wirth zuckte die Achseln und entfernte sich. Amalie verschloß hinter ihm die Thüre, stellte eine Bank neben das Fußende des Bettes und setzte sich darauf. Dann öffnete sie das mitgebrachte Gesang­buch und sang langsam und feierlich ein Todtenlied nach dem anderen. Mitunter zitterte ihre Stimme, und manche Thräne rollte über ihre Wangen, aber sie hielt keinen Augenblick inne.

Der Doktor und der Fremde hatten sich auf die Bank gesetzt, die an den Wänden entlang lief, und flüsterten leise miteinander.Weß das Herz voll ist, läuft der Mund über." Der Doktor erzählte in jener Nacht dem Landsmann die Ge­schichte der Gräfin nnd ihres Gemahls.

Und was wurde aus der Gouvernante?"

Mein Gott, die arme Kleine war ja noch so blutjung. "Sie hat nachher einen benachbarten Gutsbesitzer geheirathet, seinen Freund, und sie lebt glücklich mit ihm; aber ich glaube nicht, daß sie unseren Grafen vergessen hat. Mein Gott! Wer könnte das auch!"

Als die Sonne aufging, wurde an die Thüre geklopft. Es war ein Telegramm aus Innsbruck eingetroffen.Sie sind schon unterwegs, Amalie," sagte der Doktor.

Der Fremde erhob sich:Leben Sie wohl, Doktor." Der Doktor umarmte ihn.Leben Sie wohl," erwiderte er und wandte sich ab. Amalie ergriff die Hand des Fremden und führte sie an ihre Lippen.Mit Gott, Herr," sagte sie, mit ihren Thränen kämpfend,Gott vergelte es Ihnen, daß Sie unserer gnädigen Frau die letzte Ehre angethan haben."

Draußen glühten die Gletscher, und das weiße Eis der Bergspitzen in rothem Licht, während über den Bergwäldern an den Halden nnd über dem Thal noch die Schatten der Nacht lagen. Der Fremde stieg lange bergauf. Da, wo der Pfad, den er verfolgte, das Thal verließ, blieb er stehen, wandte sich um und blickte nieder auf das Dorf tief unter ihm. Dort dort unter den rothen Stämmen der Kiefern neben dem weißen Hotel das dunkle Gebäude da war der Raum, in dem der Doktor und Amalie bei der Gräfin wachten.

Rings um ihn blühten rothe Alpenrosen und blauer En­zian, und dort an jenem Stein breitete auch ein Edel­weiß die sammetweichen Zweiglein aus. Eine Alpenlerche er­hob sich, flatterte singend, jubelnd, jauchzend höher und höher, bis sie hoch über dem Dorf gleichsam still hielt.

Der Fremde hob seinen Stock, der ihm entfallen war, auf und wanderte weiter. Noch ein paar Schritte, nnd ein anderes Thal öffnete sich seinen Blicken; aber er hat jenes erste eben so wenig je vergessen wie die Geschichte von unserem Grasen".

Wersöntiche Erinnerungen aus den Jahren 18481850.

Nachdruck verboten Ges. v. II./VI. 7»

VIII.

Mit dem Zusammentritt der zurVereinbarung" berufe­nen Nationalversammlung trat aus leicht begreiflichen Grün­den die Berfassungsfrage in den Vordergrund der Berathun­gen und zwar nicht allein im Schoße der Nationalversamm­lung, sondern auch auf der Straße, wo diejenigen Patrioten tagten, welche für ihre Anträge in der Nationalversamm­lung selbst noch nicht die genügende Unterstützung fanden. Es war damals eben die Zeit des gesteigerten Aberglaubens an Berfassnngsurkunden. Man glaubte allen Ernstes, durch Majo­ritätsbeschlüsse eine dreihnndertjährige ruhmvolle Geschichte Hin­wegthun, das aus ganz bestimmten Bausteinen zusammengefügte Preußen durch Abstimmung in eine demokratische Fata Morgana verwandeln nnd die aus einem roollsi- cts broinro etablirte Herr­schaft der Könige von Preußen nöthigenfalls mit 200 Stimmen gegen 199 in einen auf breitester Grundlage ruhenden, mit republikanischen Institutionen umgebenen demokratischen Thron verwandeln zu können. Es war dies eine Illusion, welche neuerdings ihre philosophische Vollendung durch Herrn von

Hartmann gefunden hat, welcher bekanntlich allen Ernstes be­hauptet, daß die Menschheit durch einen einstimmigen Beschluß den Untergang der Welt herbeifnhren könnte.

Glücklicherweise hätte ein Beschluß, Preußen oder Deutsch­land in eine Republik zu verwandeln, ungefähr dieselbe Wir­kung, als wenn man beschließen wollte, Deutschland solle fortan eine Insel sein; und ich erinnere mich hierbei mit Vergnügen einer Rede des Abgeordneten Buß in Erfurt, welche etwa mit den Worten begann:Meine Herren! Ich weiß, daß meine Rede nicht die geringste Wirkung ans Ihre Abstimmung aus­üben wird; ich weiß aber auch ebenso genau, daß Ihre Ab­stimmung nicht die geringste Wirkung ans die Wirklichkeit haben wird." Erst später im Jahre 1866 hat man die rechten Mittel kennen gelernt, um die ersehnte Neugestaltung Deutschlands und damit auch Preußens in das Werk zu setzen.

Leider war man damals in Berlin noch nicht so weit. Man gefiel sich nicht allein fortdauernd darin, die Berliner Barrikadenkämpfer zu lobhudeln, indem man beispielsweise rühmte, daß alle Wunder der Geschichte zu nichts zerstieben