Heft 
(1878) 09
Seite
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Bewundernswerthen, das uns z. B. gerade in den Schulver­hältnissen der Ostseeprovinzen entgegentritt, seine Anerkennung nicht versagen. Sind dieselben auch noch im Werden begriffen, so finden wir dennoch, besonders in Livland, der Ungunst der Verhältnisse, den Entfernungen und Entbehrungen zum Trotz etwas, das unsere, seit Jahrhunderten gepflegten Einrichtungen nicht aufzuweisen vermögen, daß nämlich jede dieser armen lettischen Mütter im Stande ist, ihre Kinder bis zu dem schulpflichtigen Alter von elf Jahren selbst zu unterrichten. Es ist dies der Unterricht auf dem Lande, dessen Schwierigkeit bei den weiten Wegesstrecken, den langen und strengen Wintern die Bewohner Livlands zur Erfindung ganz neuer Mittel und Wege zwang, wenn man dem jungen Ge­schlecht überhaupt die Schulbildung wollte zugänglich machen. Läßt aach solch ein mütterlicher Unterricht in Bezug auf wirk­liches Wissen noch manches zu wünschen übrig, so ist dennoch der Gedanke, daß auch die Mutter aus dem Arbeiterstande die Pflicht hat, die Spenderin der ersten geistigen Nahrung der eigenen Kinder zu werden, etwas so Ideales auf dem Gebiete der Pädagogik, das Verhältniß zwischen Mutter und Kindern ein so viel höheres, daß man dagegen gern einige Lücken im Unterrichte hinnehmen kann. Auch kann man an- uehmen, daß, je länger diese Einrichtung besteht, je mehr das jüngere Geschlecht seine eigenen Kenntnisse vervollkommnet, desto mehr auch die Leistungsfähigkeit der Mütter im Unter­richten wachsen wird. Die meisten der Unseren, die von dieser gewiß seltenen Einrichtung hören, Pflegen zu fragen,so kann also jede Lettin selbst lesen?" Die bejahende Antwort auf diese Frage zeigt uns zunächst einen allgemeinen Bildungsgrad, auf den man bei uns gewohnt ist, stolz zu sein, und dennoch wird jeder, der einmal zu unterrichten versuchte, wissen, wie weit die Kunst des Lesens unter der Aufgabe es zu lehren steht. Und nun gar, welche Schwierigkeit möchte es unseren Arbeiter­frauen bereiten, die frommen Gesänge ohne jedes musika­lische Instrument einzuüben! Die Lettin aber versteht es, ihr Kind die vorschriftsmäßigen 12 Choräle singen zu lehren.

Wenn auch das deutsche Element in den Ostseeprovinzen das eigentlich bildende war und ist, so blieb dennoch in Esth- land das Esth nische, in Kur- und Livland das Lettische Volkssprache, der Gemeindeschulunterricht wird daher in diesen Sprachen ertheilt. Der deutsche Adel in den Provinzen war vor fünfzig Jahren selbst noch dagegen, daß der Esthe, daß der Lette deutsch lernte; lieber sprach er und spricht er noch heute mit den Kindern des Volkes ihre Sprache, wenn sic deutsch reicht verstehen so sehr er für sich selbst sein verbrieftes Recht in Anspruch nimmt, daß die deutsche Sprache Geschäfts­und Landessprache bleibt.

Als im Jahre 1805 ein Freiherr von Buxhövden, Gou­verneur von Esthland, alle von ihm zu ertheilenden Erlasse in russischer Sprache anfertigen ließ, da erhoben die Esthländer (Esthe bezeichnet den Mann aus dem Volke) deshalb Klage bei denr Kaiser Alexander I, worauf der Monarch in einem eigenhändigen Schreiben dem Buxhövden einen Verweis ertheilte, weil er sich unterfangen habe, die verbrieften Rechte der Pro­vinzen anzutasten, die fest und unerschütterlich für alle , Zeiten daständen. Dieser Brief wird noch jetzt im Archiv der esthländischen Ritterschaft aufbewahrt. So viel über die bis­herige Anwendung der russischen Sprache. In Bezug aus die deutsche Sprache wünscht dieselbe Ritterschaft jetzt Wohl lebhaft, sie möchte nicht so lange ein Vorrecht der gebildeten Stände geblieben sein. Das Deutsche ist jetzt als Unterrichtssprache in den Parochial- und Kreisschulen eingeführt, welche höheren Lehranstalten denen offen stehen, die nach ihrem Abgänge von der Gemeindeschule ihre Ausbildung noch vervollkommnen wollen. In den Parochialschulen wird 13 Rubel monatliches Schul­geld bezahlt, welches indes auch häufig erlassen wird, während der Unterricht und der Aufenthalt in der Gemeindeschule frei gewährt wird. Die höheren Schulen unterrichten bis aus eine kurze Ferienzeit auch den Sommer hindurch, während die lettische Gemeindeschule nur vom November bis Ende April geöffnet ist. Aber wie wird in dieser kurzen Zeit gelernt! Vom frühen Morgen bis zum späten Abend, mit Ausnahme

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der Zeit für die Mahlzeiten. Die Kinder übernachten in dem Schulhause und gehen nur am Sonnabend nach Hause, um am Montag mit neuen Mundvorräthen heimzukehren. Die Eltern sind verpflichtet, Kartoffeln, Grütze, Erbsen, Salz, Fett, wenn ihre Mittel es gestatten, auch etwas Fleisch und Thee, jeden­falls das für die Ernährung ihrer Kinder nöthige Brot all­wöchentlich zu schicken; in vielen Gemeindeschulen hat man es schon erreicht, eine Gemeindeköchin anzustellen, und diese kocht von dem Mitgebrachten den Kindern zweimal, nach einer Verfügung einer Kreislandschulbehörde sogar dreimal warme Mahlzeiten. Da aber, wo es bis jetzt noch an Mitteln fehlt, eine solche Gemeindeköchin zu besolden, ist darum der Schul­besuch nicht unterblieben, sondern das harte Geschlecht gedeiht und lernt- auch bei kalter Speise sechs Tage in der Woche, ohne daß man von Krankheiten etwas weiß.

In diesen Gemeindeschulen sind bis 110 Kinder anzu­treffen, von denen die Knaben in einem, die Mädchen in einem andern Raume auf Heusäcken schlafen. Nur selten hört man von Augenkrankheiten in diesen Schulen; freilich mag der Unterricht in den Abendstunden nicht immer bei aus­reichender Beleuchtung durchgeführt werden können. Bei der spärlichen Bevölkerung Livlands, das sich immer noch nicht von den entsetzlichen Verheerungen des russisch-schwedischen Krieges erholt hat, noch immer nicht seine zerstörten Städte es be­sitzt deren nur sieben seine niedergebrannten Dörfer wieder ausbauen konnte, fahrt man oft 200 Werst (über 28 Meilen) durchs Land, ohne anderes zu sehen als einzelne Schlösser mit ihren Wirthschaftsgebäuden und Ländereien, einsame Stations­häuser, wenige Gesinde und Hoslageu (so nennt man mehrere Holzhäuser mit ihrem Ackerland beisammen gelegen), stunden­lange Wälder, Wiesen und Seen. Bei den bedeutenden Ent­fernungen, die diese armen lettischen Schulkinder im strengen Winter oft zu durchwandern haben, ehe sie ihr meist einsam gelegenes, aber stets freundlich ausgestattetes Schulhaus erreichen, ist das Zusammenkommen für die ganze Woche unerläßlich.

Man rechnet drei Schuljahre für die lettischen Kinder, in denen sie allwinterlich zu ihrem Lehrer ziehen. Im Sommer wird das im Winter Erlernte durch Repetitorien erhalten, die der Lehrer, auch der Pastor und sein Gehilfe ab und zu hält. Bis zum elften Jahre muß, wie oben erwähnt, die Mutter ihre Kinder selbst unterrichten, und in dieser Zeit wird durch Schnlvisitationen des Geistlichen oder seines Gehilfen, welche alle vier bis sechs Wochen die Kinder vereinigen und exami- uiren, dieser häusliche Unterricht kontrolirt stolz ist dann die Mutter, deren Kinder am besten antworten! Erst seit wenigen Jahren existiren zur Erleichterung hierbei lettische Fibeln und leichte Lesebücher; früher wurde nur die Bibel von der Mutter als Lehr- und Lesebuch gehandhabt und mit so unerbittlicher Strenge, daß meist in sechs Wochen die Hanptschwierigkeiten beim Lesen überwunden waren.Mir thut solch ein armes lettisches Kind leid," sagte mir einst eine deutsche Dame,ich habe diesen ersten Leseunterricht bei unserer Köchin mit angesehen, die, während sie kochte und arbeitete, ihren kleinen Sohn buchstabiren ließ, aber ohne ihm Ruhe zu gönnen, ohne ihm eine freie Stunde zu lassen, bis er lesen konnte."

Eine Frau, deren ärmliche fast leere Stube von der Dürf­tigkeit zeugte, mit der sie nebst acht Kindern um ihre Existenz kämpfte, fragte ich, wie sie es bei ihrer vielen Arbeit denn durchsetze, ihre Kinder zu unterrichten. Sie antwortete:

Ich schreibe da auf den Tisch einen Buchstaben mit Kreide, den müssen sie lernen, so lange ich weiter arbeite; können sie ihn, so schreibe ich einen zweiten dazu, und so geht's fort. Ich habe den ältesten Kindern auch noch das Schreiben und etwas Rechnen beigebracht, denn ich wollte meine Jungen gern in der deutschen Schule (sie meinte die Parochialschule) erzogen haben; da kostet es einen Rubel den Monat, und ich ersparte das erste Schuljahr dadurch, daß ich sie selbst länger unterrichtete."

Man denke, welch ein Opfer hier für die Erziehung ge­bracht wurde, während wir oft so viel Mühe haben, die Kin­der armer Leute zu einem regelmäßigen Schulbesuch anzu­halten, der ihnen keinerlei Geldopfer auferlegt. Die lettische