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Schule lehrt im ersten Jahr die Kinder ihr Lesen vervollkommnen, das Schreiben ans der Tafel, leichtes Kopfrechnen, die drei Spezies, Katechismus und biblische Geschichte. Im zweiten Schuljahr wird alles Begonnene weiter ausgedehnt; das Divi- diren und schweres Kopfrechnen tritt hinzu; es wird auf Papier geschrieben; den biblischen Geschichten folgen Religionsstunden und je nach der Befähigung der Kinder beginnt der Unterricht im Deutschen oder Russischen. Die Erlernung des ersteren eröffnet den Eintritt in die höheren Lehranstalten des Landes, die der letzteren Sprache kürzt den Militärdienst. Im dritten Schuljahr wird alles Erlernte befestigt und erweitert, auch wird erst dann das Nöthigste von Geschichte und Geographie in den Lehrplan ausgenommen. Die Gefangstunden gehen durch alle Schuljahre und es findet sich bei den Letten Lust und Talent für Gesang. Nach ihrem Ausscheiden aus der Schule werden die Kinder bis zu ihrem 17. Jahre, wo gewöhnlich erst die Einsegnung erfolgt, stets noch für einige Wochen zu Repetitorien an den Hauptorten des Kirchspiels vereint.
Neben den Schuleinrichtungen flößt uns die Handhabung der Rechtspflege in Livland eine besondere Hochachtung ein. Da findet man mitten in tiefster ländlicher Einsamkeit allwöchentlich einen sogenannten Gerichtstag, zu dem die Bauern ! oft meilenweit herbeikommen, um nach dem äußerst praktischen, > nur einen starken Band umfassenden Bauernrecht alle kleineren I
Streitigkeiten vor dem Gemeindeschreiber und dem Gemeinderichter — Leuten aus dem Volk — zu schlichten. Gleich nach dem mündlichen Urtheil wird die Strafe vollzogen. Da wird das Geld, welches der Verurtheilte zu zahlen hat, gleich niedergelegt auf den Gerichtstisch vor dem Gefetzesspiegel, oder zänkische Weiber müssen sich sofort vor dem Richter versöhnen und küssen, anderenfalls auf einige Tage in das Gesängniß wandern u. s. w. Natürlich verhandelt man in lettischer Sprache.
Alle vier Wochen aber ist der Kirchspielsgerichtstag, vor welchen: alle Angelegenheiten von größerem Gewicht und Werth ausgeglichen werden, und für welchen höher gebildete Richter mit ziemlich bedeutenden Gehältern angestellt sind.
lieber diesen steht dann wieder das Hofgericht, und ganz eigenthümlich berührt es den Deutschen, sogar dem alten Lübischen Recht, das in unseren Seestädten Swinemünde, Greifswald re. noch heute gilt, als einer Ueberkommenschaft aus alter Zeit auch in den Ostseeprovinzen zu begegnen.
Doch genug für heute. Es lag mir daran, irrigen Vorstellungen über den Kulturzustand in den Ostseeprovinzen ent- gegenzntreten, weil ich Land und Leute, die dem Fremdling eine so seltene und großartige Gastfreundschaft bieten, als wollten sie ihn vergessen lehren, daß es für ihn noch ein anderes Heim gibt, liebgewonnen habe. M. Sch.
Am Jarmkientische.
Bücherschüli. l,v.
P sann schm idt, Moses und die Tochter Pharaos. Sieben Bilder.
In Kupfer gestochen von Fr. Lndy. Mit Dichtungen von Karl
Gerok. Groß Folio. Bremen, C. Ed. Müllers Verlag.
Der durch seine trefflichen kirchengeschichtlichen Wandgemälde wie durch seine fromm empfundenen biblischen Altarbilder in vielen christlichen Gemeinden unseres Vaterlandes wohlbekannte Professor Psann- schmidt, ein Schüler des großen Meister Cornelius, hat in den vorliegenden Bildern die Aussetzung des Mosestindes, seine Auffindung und Rettung durch die Pharaonentochter dargestellt, wie solche im II. Buch Moses, Kap. 2 , V. 1—10 berichtet wird. Auf dem ersten Bilde erblicken wir die Mutter des neugeborenen Kindes, die dasselbe — von ihrer Tochter begleitet — in einen: Rohrkästlein an das Wasser trägt: „der schwere Gang", wie Gerok es in seinen Geleitvcrsen betitelt hat. Es folgt: „Der letzte Kuß" — die Mutter hat das Käst- lein geöffnet und nimmt von ihren: Liebling Abschied. Wiederum geschlossen versenkt sie auf den: nächsten Bilde ihren Schatz in die Flut, gleichsam eine „Grablegung". Ein ergreifendes Bild - man glaubt, : die Mutterhand, die sich von dem Theuersten nicht losreißen kann, ! zittern zu sehen. Endlich hat sie es lvsgelassen und ist stumm klagend ! an: Ufer znsammengcbrochen — ihre Tochter Mirjam sucht sie liebevoll zu trösten und ihren „Blick aufwärts" zu lenken. „Erinnern und Hoffen" soll das nächste Bild veranschaulichen — die Mutter, in eine Felshöhle zurückgezogen, gedenkt wehmüthig des verlorenen Glückes, die Tochter hofft in jugendfrischer Zuversicht auf eine gnädige Himmels- fngung. Im Hintergründe sieht man schon die Königstochter mit ihrem Gefolge nahen, dem das schwimmende Kästchen sofort in die Augen fällt. . Herbeigebracht, wird der seltsame Fund geöffnet und der „Findling" entdeckt. Bald liegt der Säugling an der Mutterbrust, und im „Triumphzug" folgen Mutter und Tochter der fürstlichen Retterin und Schützerin, die zum Palaste des Königs den Rückweg einschlägt. — Wie man sieht, hat der Künstler in freier und — man kann es nicht leugnen — in moderner Weise den Text behandelt; ja für den Geschmack dieses oder jenes sind die Bilder vielleicht zu weich, oder, wie inan es nennen könnte, zn modern-lyrisch empfunden. Es sind deutsche Franengestalten, und es ist deutsche Mutter-, Schwester- und Kindesliebe, es ist ein deutsches Franenauge, das sich erbarmend über den Findling neigt, und darum wird kein deutsches Mntterherz diese an- muthigen Zeichnungen ohne Rührung erblicken. Dennoch fragt man sich unwillkürlich: hätte sich dieselbe Wirkung nicht erzielen. lassen bei national treu gehaltenen Zügen? Ein hebräisches Mntterherz hat gewiß nicht anders empfunden, als ein deutsches, und die Barmherzigkeit der Pharaonentochter war in nichts verschieden von der einer deutschen Prinzessin — warum hat der Künstler nicht jüdische und ägyptische Frauen statt deutscher gezeichnet? Warum hat er das originale Gewand und den Lokalton so ganz verschmäht? Seitdem Ebers uns in zwei meisterhaften Romanen bewiesen, wie das allgemein Menschliche sich mit treu historischer Lokal- und Zeitfarbe in Aegypten verbinden läßt, könnte man ein Gleiches von dem Künstler auch erwarten. Doch wir wollen nicht mit ihm rechten; auch trotz dieser Bedenken haben wir die Bilder, je länger wir sie betrachtet, desto lieber gewonnen, und die ergreifenden Dichtungen, mit denen Gerok sie umrahmt, haben uns vollends damit ansgesöhnt. Sie tönen wie eine poetische Uebertragung aus dem Hebräischen in die geliebte Muttersprache, und zugleich wie eine fromme Auslegung des alttestamentlichen Berichtes im Lichte des Evangeliums. Wie unser Freund seine Aufgabe gefaßt und gelöst hat, davon möge
eine Probe zeugen. Mir Wahlen dazu das vierte seiner Gedichte, das sich auf den Trost bezieht, den Mirjam der trauernden Mutter spendet, nachdem das Kästchen ans das Wasser gesetzt ist:
Aufwärts den Blick.
Fahre wohl! nun ist's geschehen,
Auf den Wellen schwimmt das Pfand;
Segnend noch, mit stummem Flehen Streckt sich aus die Mutterhand.
Aber Mirjam hebt nach oben Sanft der Mutter sinkend Haupt.
Selig, klingt's herab von droben,
Wer nicht sieht und dennoch glaubt!
-st
Ohnmächtig bleibt verwaiste Liebe stehn,
Wenn nun am Grab der letzte Dienst geschehn;
Kein Auge schaut hinab ins stille Zelt,
Wo leis zu Staub das holde Bild zerfällt;
Es reicht kein Blick hinaus ins fremde Land,
Wohin sich der erlöste Geist entwand;
Die Sehnsucht streckt die Arme nach der Gruft,
Sie greift nur Schatten und sie faßt nur Luft;
Sie senkt ihr Haupt, gequält von tausend Fragen,
Und ach! kein Sterblicher kann Antwort sagen.
Empor den Blick! Hinauf das müde Haupt!
O selig wer nicht sieht und dennoch glaubt!
Und kannst du an: Geliebten nichts mehr thnn:
Laß nicht im Schooß die Hände trostlos ruhn,
Nein, falte sie zu brünstigem Gebet;
Dort hört ein Ohr, was Liebe klagt und fleht;
Dort wacht ein Aug' und nimmt in finstrer Nacht Die Thräne, die dein Kissen netzt, in Acht;
Dort lebt ein Herz, das jeden Kummer kennt,
Der heimlich auf der wunden Seele brennt;
Dort herrscht ein Arm, der kann dnrch Todesthüren,
Aus Nacht zum Licht, aus Schmerz zur'Freude führen. ^ ^
Polens Auflösung. Kulturgeschichtliche Skizzen vom Freiherrn Ernst von der Brüggen. Leipzig, Beit L Comp. 1878.
Wenn die Fortschrittspartei oder das Centrum sich veranlaßt fühlen, im Reichstage oder im preußischen Abgeordnetenhanse einen ihrer platonischen Anträge zu stellen, werden sie in ihren Bemühungen regelmäßig von den „Polen" unterstützt. Es ist das ziemlich die einzige Gelegenheit, bei der heutzutage der im inneren Deutschland lebende Deutsche sich gelegentlich bewußt zu werden pflegt, daß wir auch polnische Landsleute haben. Es sind ihrer nicht weniger als gegen zwei und eine halbe Million; da wir ihnen aber weder im Staatsdienst, noch in den Offiziercorps, noch im Handel und in der Industrie begegnen, so haben wir keinerlei Veranlassung, uns um sie zn bekümmern.
Einst war das anders. Als nach dem Aufstande von 1831 Scharen flüchtiger Polen sich über Deutschland ergossen, wurden sie überall mit offenen Armen ausgenommen. Aber die Innigkeit des Verhältnisses litt bald an der Verschiedenartigkeit des Denkens und Empfindens Schiffbruch, und in kurzer Zeit waren die polnischen Gäste weiter gezogen nach Westen, wo sie sich mehr zu Hause fühlten. Ihre bisherigen Wirthe - sahen ihnen mit enttäuschten aber immerhin erleichterten Herzen nach. Man paßte eben nicht zn einander. In der That —