„Ist Deine Geistessammlnng schon vollendet, lieber Adolf?" fragte Frau von Stolp mit theilnehmender Zärtlichkeit, indem sie auf den Gatten znschritt. „In Wahrheit, Dein Gesichtsausdruck sagt es mir, er ist ernst, gemessen, erhaben! Die Schnelligkeit, mit der sich Deine Sammlung und geistige Vorbereitung vollzogen hat, beweist evident Deine Begabung. Willst Du die Rede nicht einmal aufsagen? Stelle Dich dort auf die Fußbank, sie mag die Stelle der Tribüne vertreten, und nimm an, das Zimmer sei der Sitzungssaal."
Der kalte Schweiß, der Herrn von Stolps Stirn bedeckte, ward fast zum Todesschweiß. „Laß das!" sagte er gebieterisch.
„Wie Du willst! Ohnehin werde ich in wenig Stunden Gelegenheit haben zu erkennen, wie richtig ich Dich beurtheilt habe. Du bist nur zu bescheiden — ich wünsche, ich könnte Dir etwas von meinem Selbstvertrauen geben!"
„Ich wünschte es auch!"
„Doch da Dich der Zufall einmal hierher geführt, so kann ich nicht umhin, Dich mit einer Angelegenheit bekannt zu machen, die mich so eben lebhaft erregt und mir trotz allen Stolzes, den ich Deinetwegen empfinde, Kummer zu bereiten droht. Gret- chen, Deine, unsere Tochter, macht mir plötzlich schwere Sorgen."
„Gretchen, unser liebes Kind? Ist sie wieder in Ohnmacht gefallen?" fragte Herr von Stolp, durch die Stärke seiner Vaterliebe selbst von seinen staatsmännischen Combina- tionen abgezogen.
„Nicht doch, wenn es weiter nichts wäre — das Kind hat sich verliebt!"
„Potz Blitz! das fehlt augenblicklich noch, Liebesgeschichten vor meiner Landtagsrede!"
„Nicht wahr? Und gerade jetzt sich zu verlieben, wo wir durch Dich an die Schwelle einer großen Zukunft gestellt sind. Es ist unverantwortlich!"
„In wen hast Du Dich denn aber verliebt, Grete?" fragte Herr von Stolp. „Ich meine, Du hast noch kaum ein Mannsbild angeschaut, seit Du in Berlin bist?"
„O, guter Papa, mache mir das Herz nicht noch schwerer. Es ist mir ohnehin zum Springen voll!" brach Gretchen plötzlich in Thränen aus. „Ich weiß selbst nicht, wie's zugegangen," fuhr sie unter Schluchzen fort; „aber das Unglück, nein das Glück, nein die Seligkeit — ist einmal da!"
„Rede endlich, wer ist's?" inquirirte Herr von Stolp weiter. „Hast Du kein Vertrauen zu mir?"
„Nun, der hübsche, schlanke, junge Herr, der gestern mit uns zusammen in der Loge saß," berichtete die Tochter, ihren Muth wiederfindend. „Derselbe, der so lieb und herzlich mit uns zu plaudern verstand, als wäre er ein alter Bekannter."
„Grete, Du hast keinen schlechten Geschmack, er war scharmant!"
„Nicht wahr?" rief Gretchen in Hellem Entzücken.
„Ein sauberer Patron, in Wahrheit," schnitt Frau von Stolp die beginnenden Friedensverhandlungen energisch ab, „hier sieh und lies und urtheile, Du Kurzsichtiger und Leichtgläubiger ! Dankt es dem Himmel, daß er Euch in mir einen weitsehenden Geist und einen scharfblickenden Wächter an die Seite gegeben," fuhr sie mit Selbstbewußtsein fort, indem sie Assessor Winters unglückliche Wirthsrechnung dem Gatten prä- sentirte. „Ein Zufall, ueiu, die Vorsehung hat mir diesen Beweis seiner Unwürdigkeit in die Hände geliefert!"
Herr von Stolp griff mechanisch nach dem dargereichten Blatte, und schaute ebenso mechanisch hinein. Aber selbst sein jovialer Gesichtsausdruck verschwand bei dem Rum und dem zerschlagenen Spiegel. Im ersten Schrecken vergaß er sogar zu fragen, welcher Zufall, nein, welche Vorsehung seiner aufmerksamen Gattin diesen „zerschlagenen und zerschlagenden Beweis" in die Hände geliefert.
„Ich, Dein zärtlicher Vater, liebes Gretchen," sagte er stockend, aber dennoch mit Todesverachtung, „dem Du kindlichen Gehorsam schuldest, verbiete Dir, jemals wieder an den Mann zu denken, der solche Rechnungen empfängt!"
„Endlich!" triumphirte Frau von Stolp. „Du bist ein Mann! durch mich, theurer Adolf! O, Schiller, nein, Mat- thisson hat recht: es wächst der Mensch mit seinen höheren
Zwecken! Auch Du wächst jeden Tag um einen Zoll, nein, um einen Centimeter heißt es jetzt."
Leider machte in diesem Augenblicke Johann durch sein nicht allzuleises Auftreten Frau von Stolps Begeisterung ein Ende. Er kam, das Kaffeegeschirr hinanszutragen, um später den Frühstückstisch nach heimischer Sitte zu decken. Frau von Stolp warf ihm einen wüthenden Blick zu, der aber mit vollständigster Seelenruhe ausgenommen wurde.
Gretchen erschien niedergeschmettert. Gerade die Seltenheit des strengen, wenn auch immerhin liebevollen Tones, in welchem der Vater zu ihr gesprochen, machte diesen doppelt wirkungsvoll. Herr von Stolp selbst hingegen empfand den schweren Tritt seines Dieners wie das Wehen eines Friedensengels, denn er machte hoffentlich dem Familiendisput ein glückliches Ende.
„Die Austern auf mein Zimmer, Johann, nebst einer Flasche Champagner — hörst Du," sagte er tiefaufathmend und sich den Schweiß von der Stirn wischend. „Ich möchte sie Prokuren — Du kannst auch zwei Flaschen Sekt dazu setzen! — Auch diese Liebesgeschichte noch zu meiner nnausgebrüteten Landtagsrede! Wer hieß mich auch nach Berlin kommen? Aber, wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis."
Johann nickte feierlich wie ein Automat. Er hatte die Sehnsucht seines Herrn nach einem verschwiegenen Austernfrühstück vollkommen begriffen, und ging, die Silberplatte vom vergessenen Geburtstagstisch zu nehmen. Diese Bewegung Johanns erinnerte Gretchen an den Auftrag, den sie von ihrem Vater erhalten hatte.
„Ob Papa wohl so streng gegen mich gewesen wäre, wenn ich nicht vergessen hätte, ihm die Austern zu rechter Zeit auf sein Zimmer zu schicken?" philosophirte sie.
IV.
Als Assessor Winter eben keuchend den Kaiserhos erreichte, verließ Frau von Stolp stolz und reich beschleppt das Hotel. Der junge Mann verfehlte nicht, die Dame zu erkennen und ehrfurchtsvoll zu grüßen, während diese ihn entweder nicht wiedererkannte oder absichtlich ignorirte.
Die Wohnung des Landtagsabgeordneten von Stolp war bald erfragt und aufgefunden. Vor der Zimmerthüre erst kam dem Eilenden ein kurzes Besinnen.
Vor allen: war ihm an der Wiedererlangung des Manuskriptes gelegen, welches ja der Verleger stündlich erwartete. Er selbst sah freilich der Zahlung der Hälfte des stipnlirten Honorars zur Tilgung der unglücklichen Wirthsschuld ebenfalls mit heißer Sehnsucht entgegen. Dann aber ergriff ihn auch ein unsäglich unbehagliches, beschämendes Gefühl, wenn er der beiden anderen Schriftstücke gedachte, welche der Schoß des Unglücksschlafrockes barg. An der Thür des Salons begegnete ihn: Johann mit dem Gedeck des Frühstückstisches und den zwei bestellten Goldköpfen.
„In der Tasche — des — Ihrem Herrn — abgetretenen Sammetschlafrockes — steckt ein werthvolles Manuskript," sagte Assessor Winter noch immer athemlos, „ich verlange es sofort zurück! Sogleich, bitte sogleich," setzte er in stotternder Erregung hinzu, als ihn Johann nicht zu verstehen schien. Und dabei ließ er zum besseren Verständniß ein glänzendes Zweimarkstück zwischen Johanns die beiden Flaschenhälse umspannende plumpe Finger gleiten.
Wenn Johann auch das Erstaunen nicht bemeisteru konnte, das ihm Mund und Nase aussperren ließ, als er denselben Herrn, der gestern Abend sein Fräulein aus der Oper getragen, und dem er selbst heute schon einen unfreiwilligen Besuch gemacht, sich plötzlich wieder gegenüber stehen sah, so war er doch geschickt und nervenstark genug, das Geldstück nicht zur Erde fallen zu lassen, sondern es mit seinem Aermel aufzufangen.
„Was steht zu Befehl?" fragte er diensteifrig.
„Ich muß sogleich mein Manuskript zurück haben!"
„Mein —?" fragte Johann.
Trotz der Übeln Laune des jungen Mannes überflog jetzt ein Lächeln sein Gesicht.
„Was für ein Ding befehlen der Herr zurück?" fragte Johann noch einmal.