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„Ich wünsche den Gegenstand zurückznhaben, der sich in der linken Tasche des Ihrem Herrn abgetretenen Schlafrockes befindet, und bitte Sie, ihn mir sofort zn holen. Es ist ein Gegenstand, der zuweilen ganz unschuldig, zuweilen aber auch gefährlich ist," fuhr Assessor Winter, immer noch fast wider Willen über den Ausdruck in Johanns Mienen ergötzt, heiter fort.
„Gefährlich? Ist er geladen?"
„Hoffentlich ist das Ding geladen, und zündet bei allen, die es in die Hände bekommen!"
„Holen Sie es sich selbst, ich habe keine Zeit — der Herr erwartet das Frühstück," erwiderte Johann, so eilig die Flucht ergreifend, daß die Goldköpfe aneinander klappten.
„Zum Henker, der Kerl ist närrisch! Aber was bleibt mir übrig, ich muß dennoch seinem Nathe folgen. Nun — der Herr frühstückt Champagner, die Dame ist ausgegangen, und Gret- chen —? Nun — sie wird vielleicht hoffentlich allein im Zimmer sein."
Während dieses Selbstgesprächs hatte der Eindringling wirklich die Thür ein wenig geöffnet. Das Zimmer war leer.
Ein kurzer Entschluß, und Assessor Winter war eingetreten. O, Entzücken, dort ans dem Sopha lag ausgebreitet der ersehnte Schlafrock.
Ein kühner Griff in die linke Tasche und — das Manuskript war in seinen Händen.
„Gottlob," dachte der junge Mann erleichtert, „ich kann nun Madame Piefke morgen wenigstens die Hälfte der Rechnung bezahlen!"
Erst jetzt wagte er es, sich ein wenig im Heiligthum der Geliebten umznschen. Richtig, dort stand ihr perlmutterver- ziertes Arbeitskästchen, daneben die Scheere, der kleine Fingerhut und vor dem Tabouret das sammtene Fußkissen mit den Eindrücken ihrer kleinen Füße — mit einem Gefühl schwärmerischer Zärtlichkeit überblickte der Assessor das ganze Bild. Dann wandte er sich noch einmal nach dem Schlafrock um, um auch die beiden andern Schriftstücke zurückzunehmen. Da — stand Gretchcn plötzlich vor ihm. Sie war so eben leise eingetreten.
„Verzeihen Sie!" begann der Assessor. „Ich, ich —" er stockte.
Gretchen war scharfsinnig genug zu ahnen, weshalb er gekommen war. „Sie — wollen etwas znrückhaben, mein Herr, nicht wahr?" Auch Gretchen stockte.
Sie sahen einander einige Sekunden wortlos an.
„Ich fand es zufällig, und es ist noch in — meinem Besitz." Abermals stockte sie hocherröthend.
Der Assessor zweifelte nicht, daß es die liebeserklärenden Primanerverse seien, die sie meinte. In Wahrheit, sie waren schnell und wider seinen Willen an ihre Adresse gelangt!
„Sie haben Recht, auch sie suchte ich — wenn auch erst in zweiter Reihe —"
„So war es die — Wirthsrechnnng?" fragte Gretchen zögernd und mit verhaltenen Thränen.
„Auch sie nicht!" stotterte Assessor Winter hoch erschrocken — verdammt, auch sie ist gefunden!"
„Nun, was war es denn?" frug Gretchen weiter.
„Ich — habe es bereits gefunden!" antwortete Assessor- Winter, nicht weiter ans die Sache eingehend, denn seine Blicke hingen mit Spannung an Gretchens Blauäuglein, in denen so eben wieder zwei Thränen zitterten. Sie wischte sie mit dem Tuche hinweg, aber sie quollen stärker von neüem hervor. Seit sie in Berlin war, hatte sie schon mehr und schmerzlicher geweint als daheim in Jahren.
„Sie — weinen, theures Fräulein? Hat Sie mein unglückliches Opus beleidigt?" fragte der Assessor.
„Ach — nein!"
„Sie wissen, wie es mit mir steht," seufzte der Assessor.
„Ja, ich weiß, wie es um uns beide steht!" erwiderte Gretchen mit jener naiven unschuldsvollen Aufrichtigkeit, mit der eben nur die erste Liebeserklärung beantwortet wird, vorausgesetzt, daß eben ein starkes Gefühl die Antwort diktirt.
„Gretchen!" ries der Assessor laut und wollte in Hellen Jubel ansbrechen, aber der traurige Ausdruck in Gretchens Mienen, dämpfte unwillkürlich sein Entzücken und ließ trotz
des rückhaltlosen Bekenntnisses ihrer Liebe die Glut seiner Empfindung nicht freudig auflohen.
„Daran ist nur die fatale Wirthsrechnnng schuld," kalku- lirte er ziemlich richtig, „mein Lebensschifflein segelte lustig im Strome dahin — da wirft es ein Windstoß zurück, hoffentlich nicht ans eine Sandbank!"
„Ich wollte, ich wäre in Hinterhansen," sagte die Kleine jetzt, wahrscheinlich um nur etwas zn sagen und der bedrückenden verlegenen Panse ein Ende zn machen.
„Ich auch," wiederholte Assessor Winter unerwarteterwcise wie ein Echo. Gretchen sah verwundert aus.
„Selbstverständlich mit Ihnen zusammen, ohne Sie ist mir Hinterhausen der Nordpol!" fuhr der junge Mann weiter fort — „dennoch werde ich schon morgen dahin abreisen müssen!"
„Sie, nach Hinterhausen?" Gretchen glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.
„Ja, mein Fräulein, denn schon übermorgen ist meine Einführung beim Kreisgericht in M."
„Sie - sind?"
„Der neue Kreisrichter!"
Gretchen war wie aus den Wolken gefallen, nein, sie schien sich vielmehr über die Wolken hinaus ein gutes Stück in den blauen Himmel hineingehoben. Da, o Grausen, kam ihr wieder der Gedanke an die Wirthsrechnnng mit dem zerschlagenen Spiegel, an Mamas schroffe Strenge, an Papas so seltenen, so liebevollen, aber um so eindringlichen: Ernst, an sein Verbot, nicht an ihre gestrige Bekanntschaft zn denken. Aber ich rede ja nur mit ihm, tröstete sie sich anfangs mit weiblicher Sophistik. Doch auch diese hielt nicht Stand. Ihr Unrecht kam ihr trotz aller Scheingründe zum quälendsten Bewußtsein. Nein, sie konnte ihren zärtlichen Papa nicht betrüben, ihn, der ohnehin jetzt ein so schweres Leben führte, der so gewaltsam aus seinem behaglichen Dasein herausgedrängt war, der plötzlich so klug reden sollte wie der Pastor auf der Kanzel, obgleich er keinen studirten Kopf, sondern nur das beste Herz besaß.
„Armer Papa," sagte sie leise wie zu sich selbst, „warum hat mau Dir das angethan?"
„Hat man ihn beleidigt, ist er krank?" frug Assessor Winter mit rührender Theilnahme.
„O Gottlob nicht das, er ist gesund wie der Fisch im Wasser, aber -"
„Nun?"
„Man zwingt ihn eine Rede zu halten!"
„Im Abgeordnetenhause?"
.Ja!"
„Und wer thut es?"
„Seine Wähler! Er hat ihnen vor seiner Wahl versprechen müssen, eine Rede zu halten, damit es im Hinterhansener Wochenblatte zu lesen sei."
„Hahaha! Und er ist auf diese Bedingung eingegangen?"
„Leider ja!"
„Und wann wird er reden?"
„Noch heute!"
„Also zn den Finanzvorlagen? Wie schade, daß ich nicht an seiner Stelle bin, ich habe mich gerade mit diesem Zweige der Staatswissenschaften ein wenig beschäftigt."
„O, ich hätte nichts dagegen, wenn Sie seinen Platz ausfüllten."
„Aber sagen Sie mir, liebes Fräulein, wie ist Ihr Papa bei seiner Sinnesart dazu gekommen, den schlüpfrigen Pfad eines „redenden" Abgeordneten zu betreten?"
„Ach, das ist eine närrische Geschichte! Der frühere Kreis- ^ Achter, Ihr Vorgänger, hatte vor seiner Versetzung sein Mandat ' niedergelegt, und dies gab Mama zuerst den Gedanken ein, Papa an seinen Platz zu wünschen. Denn Mama ist erschrecklich klug und steckt immer voll hochfliegender Pläne. Doch gelang es ihr nicht, ihre Absicht durchzusetzen; Papa war nicht so leicht von seinem ruhigen Wege abzubringen. Aber er hatte einen bösen Nachbar, einen Gutsbesitzer, der ihn einmal wegen Jagdfrevels zur Anzeige gebracht. Seit dieser Zeit herrschte Haß und Feindschaft zwischen Hinterhausen und Weilenbeck;