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der neuen Reichsverfassung der erste Reichstag gewählt werden, und am 15. August in Frankfurt zusammentreten. Natürlich besaß man weder den Muth noch die Mittel, diesem Beschlüsse Nachdruck zu geben, und mußte es deshalb der Linken überlassen, die „reichverfassungsmäßige Exekution gegen die revolutionären Regierungen" in Scene zu setzen.
Zu diesem Zwecke bedeckte sich Deutschland alsbald mit einem Netze revolutionärer Märzvereine, welche überall zu den Waffen riefen, und Herr von Gagern, welcher den revolutionären Brand selbst in das Land hatte schleudern helfen, nichts desto weniger es aber ablehnte, der in Folge dessen in Sachsen ansgebrochenen Revolution die Reichshilfe zu leisten, sah sich gezwungen, unter dem 9. Mai als Reichsminister abzudanken. Am 14. wurden alsdann die preußischen Abgeordneten aus der Paulskirche zurückgerufen, doch war inzwischen ein Circular an die bisher dem engeren Bunde zugeneigten Regierungen erlassen, worin diese aufgefordert wurden, direkt in Berlin weiter zu verhandeln, auch durch Nadowitz eine Unionsakte entworfen, indem man hoffte, durch ein Sonderparlament in Gotha das in Frankfurt gescheiterte Projekt in einer mehr zusagenden Weise nachträglich zu verwirklichen.
Es würde zu weit führen, den Verlauf der sogenannten Mairevolutionen im Detail zu schildern, zumal ich meinerseits aus eigener Anschauung nur über die revolutionären Bewegungen in Berlin und Dresden berichten kann. Jedenfalls war die Bewegung diesmal weitaus ernsthafter und gefährlicher als die früheren Struve-Heckerschen Putsche in Baden, da dieselben fast gleichzeitig in Würtemberg und der Pfalz, in Sachsen und Baden zum Ausbruch kamen und auch von Berlin aus in soweit sekundirt wurden, daß dort die zweite Kammer sich für die unbedingte Ausführung der deutschen Reichsverfassung in allen ihren Konsequenzen erklärte, welcher Beschluß allerdings ihre demnächstige Auslösung zur Folge hatte. An anderen Orten gewann die revolutionäre Bewegung insbesondere dadurch einen ernsteren Charakter, daß in Würtemberg und Baiern sich wenigstens ein Theil des Militärs als unzuverlässig erwies, in Baden aber die ganze Armee, mit Ausnahme eines kleinen Theiles der Kavallerie, in Hellen Haufen in das Lager der Demokratie überging.
In Sachsen bewahrte zwar die Armee ihre Treue, doch war dieselbe anfangs in Dresden den dort zusammen geströmten zahlreichen Scharen nicht gewachsen, so daß die preußische Hilfe den Ausschlag geben mußte. Es ist mir vergönnt gewesen, den Straßenkampf in Dresden aus der Nähe anzusehen, und ich muß der Wahrheit gemäß bestätigen, daß sich einzelne Theile der Aufständischen mit wirklichem Heroismus schlugen, und daß deshalb jeder Vaterlandsfreund das Blutvergießen um so tiefer beklagen mußte, als die eigentlichen Anstifter sich wie gewöhnlich den Rücken zu decken wußten. Von Interesse war dabei die dort zum ersten Male zur Anwendung kommende neue Theorie des Straßenkampfes, nach welcher man die insbesondere in Dresden durch die Bergleute des sächsischen Erzgebirges in vorzüglicher Qualität hergestellten, sehr zahlreichen Barrikaden mittels Durchbrechung der Zwischenwände der Häuser von hinten angriff und so deren Vertheidigung nahezu unmöglich machte, weshalb auch der Verlust des Militärs ein relativ sehr unbedeutender war. Zugleich trat mir dabei die Richtigkeit des Ausspruches von Lord Wellington entgegen, wenn er sagt: „Todt kann er sein, satt muß er sein". Ein paar Grenadiere, die ich wegen ihrer Leistungen belobte, antworteten mir: „Hier ist das keine Kunst! Alle zwei Stunden einen warmen Kalbsbraten!" Die Verwüstungen, welche das Gewehr- und Kartätschenfeuer in der inneren Stadt angerichtet, waren natürlich nicht unbedeutend. Selbst die Bildergalerie am Markte hatte darunter gelitten und es war namentlich im ersten Zimmer das große Bild, welches den Empfang der Kaiserin Maria Theresia am sächsischen Hofe därstellte, von mehreren Kartätschenkugeln getroffen.
Wahrhaft naiv erscheint die fernere Politik und Aktion Preußens nach innen sowohl wie nach außen. Anstatt der Ursache der Verstimmung und der Quelle der revolutionären Bewegung nachzuforschen und hier Heilung zu versuchen; an
statt der Erkenntniß Raum und Ausdruck zu geben, daß die bisherigen Hilfsmittel und Werkzeuge sich als verbraucht und unzureichend erwiesen; anstatt dem leicht erkennbaren Bestreben des Volkes Rechnung zu tragen, die durch Schuld der Bureau- kratie verlorene Jmmediatstellung zum Königthum wieder zu gewinnen, beschäftigte man sich auch auf Seiten der Regierung, wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend mit konstitutionellen Spielereien, und legte daneben eigentlich nur noch darauf Werth, die Bureaukratie wieder schneidiger zu machen und den Ministern mehr als bisher zur Verfügung zu stellen. Nichts von einem Einlenken auf die rechten wirthschaftlichen Bahnen; nichts von einer Anbahnung einer zeitgemäßen Selbstregierung und Verwaltung: man blieb in dieser Beziehung selbst noch hinter Hansemann zurück, der seinerzeit dem preußischen Staate durch Einführung der Dahrlehnskassen einen unzweifelhaften und wesentlichen Dienst geleistet hatte.
Um deswillen hatte die Regierung auch eigentlich kein Recht, ihren Gegnern einen Borwurf daraus zu machen, daß diese sich unermüdlich in der Tretmühle des parlamentarischen Verfassungsgezänkes weiter'bewegten. Es wäre dies eben unmöglich gewesen, wenn die Regierung es verstanden hätte, andere Gegenstände der Berathung darzureichen, welchen keine Partei bei Verlust ihrer Popularität sich zu entziehen vermocht hätte. Anstatt dessen aber spann auch die neue Kammer dasselbe Gespinst wie die vorige, und kam deshalb sehr schnell auf dem Punkte an, wo ihre Auflösung als eine unabweisliche Nothwendigkeit erschien.
Wenn in dieser neuen Kammer sich einige neue Kräfte bemerkbar machten, so schwächten diese doch ihre Stellung und ihre Wirksamkeit dadurch ab, daß man ihnen immer noch zu sehr die Neigung der Rückkehr zu dem alten Absolutismus anfühlte. Nichts aber ist ungerechter als, wie dies vielfach geschehen, die „Kreuzzeitung" und deren Partei als Träger des absolutistischen Gedankens zu bezeichnen. Diese Partei wollte allerdings „mit der Revolution brechen", doch nicht in dem Sinne, um die Entwickelung Preußens und Deutschlands hinter den März zurückzuschrauben, sondern lediglich um der Weiterentwickelung die rechten Prinzipien und die realen Verhältnisse zu Grunde zu legen. Daß hierbei vielfach auch Jrrthümer mit untergelaufen sind, wage ich um so weniger zu leugnen, als auch diese Partei ebenso eine politische Anfängerin war wie alle anderen und es namentlich darin versah, ihre eigenen Grundsätze und Zielpunkte dem ihr sonst befreundeten Ministerium gegenüber nicht gleich von Hause aus mit der nöthigen Energie zu vertreten. Insbesondere war es, so überraschend dies auch den meisten klingen mag, der Präsident von Gerlach, welcher die Partei an diesem konsequenten und energischen Auftreten verhinderte, indem er durch sein in der Partei sprichwörtlich gewordenes „obgleich, aber dennoch" jeden prinzipiellen Gegensatz gegen die Praxis der Minister und schließlich selbst eine gründliche Revision der Verfassungsurkunde fernzuhalten verstand. Der Grund hierfür ist nicht allein darin zu suchen, daß Herr von Gerlach mehr ein theoretischer Dialektiker als ein praktischer Politiker war, sondern auch darin, daß ihm die Zustände noch als zu unfundirt und unsicher erschienen, um an dem faktischen Bestände des Ministeriums und an dem Verhältnisse der Partei zur Regierung zu rütteln.*)
Später, als Herr von Gerlach auch seinerseits die Nothwendigkeit eines prinzipiellen Frontmachens anerkannte, war es leider zu spät, doch ist es mir psychologisch nicht unwahrscheinlich, daß Herr von Gerlach sich gerade dadurch hat bestimmen lassen, später an seiner prinzipiellen Stellung um so
*) Vielleicht wird den Lesern eine kleine selbst erlebte Anekdote nicht uninteressant sein. Gelegentlich eines Diners bei einem gemeinschaftlichen Freunde sprach Herr von Gerlach eine politische Behauptung aus, die wegen ihres paradoxen Anstriches allgemein frappirte, so daß eine gewisse Stille in der Gesellschaft entstand. Diese Pause benutzte der mitanwesende Herr von Bismarck, indem er sagte: „Meine Herren! Warten wir fünf Minuten, dann wird Herr von Gerlach sich selbst widersprechen." Und er hatte Recht, indem Herr von Gerlach, der sich durch jene Bismarcksche Aeußerung keineswegs verletzt fühlte, ganz unbefangen erklärte: „Ja, es ist wahr, man kann die Sache auch von einer andern Seite ansehen."