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„Aber warum schüttelt er sie nicht ab?"
„Dazu gebricht es ihm an Kraft. Er ist eine schwache Natur. Und in dieser schwachen Natur steckt auch das, was mehr Anstoß gibt, als alles andere: sein Mangel an Gesinnung."
„Ist denn Kirch-Göritz der Ort, solche Schäden aufzudecken?"
„Ein jeder Ort, möcht' ich meinen, ist dazu geschickt. Und Faulstich hält nicht hinterm Berge. Er bekennt sich offen zu seinem Sybaritismus, zu einer allerweichlichsten Bequemlichkeit, die von nichts so weit ab ist, als von Pflichterfüllung und dem kategorischen Imperativ. Er kennt nur sich selbst. Alle Großthat interessirt ihn nur als dichterischer Stoff, am liebsten in dichterischem Kleide. Eine Arnold von Winkelried-Ballade kann ihn zu Thränen rühren, aber eine Bajonnetattacke mitzumachen, würde seiner Natur ebenso unbequem wie lächerlich erscheinen."
„Das theilt er mit vielen. Es ließe sich darüber streiten, ob das ein Makel sei."
„Ich wurde Dir unter Umständen zustimmen können. Aber wenn wir im allgemeinen in der Aufstellung unserer Grundsätze strenger sind als in ihrer Bethätigung, so gibt es doch auch Ausnahmen, wo wir dem Leben und seiner Praxis das nicht bewilligen mögen, was uns der Theorie nach alles statthaft erscheint. Ich weiß es nicht, aber ich gehe jede Wette ein, daß das, was in diesen Weihnachtstagen alle preußischen Herzen bewegt hat, von unserem Kirch-Göritzer Doktor entweder einfach als eine Störung empfunden, oder aber gar nicht beachtet worden ist. Meine Shakespeareausgabe gegen ein Uhlenhorstsches Traktätchen, daß er vom 29. Bulletin auch nicht eine Zeile gelesen hat. Eine Einladung nach Guse oder Ziebingen erscheint ihm wichtiger als eine Monarchenzusammenkunft oder ein Friedensschluß. Er ist in nichts zu Hause als in seinen Büchern; Volk, Vaterland, Sitte, Glauben — er umfaßt sie mit seinem Verstände, aber sie sind ihm Begriffs- nicht Herzenssache. Heute als Custos an die Pariser Bibliothek berufen, würde er morgen bereit sein, den Kaiser zu apotheosiren. Und das empfinden die kleinen Leute, unter denen er lebt. Es wird jetzt ein Landsturm geplant; über kurz oder lang werden auch die Kirch-Göritzer ausrücken. Dr. Faulstich aber? Er wird ihnen Nachsehen, lachen und zu Hause bleiben."
Während dieses Gespräches hatten die beiden Freunde den Punkt erreicht, wo der am diesseitigen Abhang sich hin- zieheude Weg scharf ansteigend nach links hin abzweigt. Sie folgten dieser Abzweigung und standen nach wenigen Minuten
auf dem Rücken des Hügels, den Fluß zu Füßen, jenseits desselben das neumärkische Flachland. Alles in Schnee begraben, die vereinzelten Terrainwellen in der weißen Fläche verschwindend. Auch das Oderbett hätte sich kaum erkennen lassen, wenn nicht inmitten desselben eine durch den Schnee hin abgesteckte Kiefernallee die Fahrstraße von Frankfurt bis Küstrin, und dadurch zugleich den Lauf des Flusses bezeichnet hätte. Rechtwinkelig auf diese Fahrstraße stießen Queralleen, welche die Kommunikation zwischen den Ufern unterhielten und in ihrer Verlängerung, hüben wie drüben, aus spärlich verstreute Ortschaften zuführten.
Die Freunde freuten sich des Bildes, das trotz seiner Monotonie, nicht ohne Reiz und einen gewissen Anflug von Feierlichem war.
„Sieh hier drüben den verschneiten Häuserkomplex hinter den Weiden, das ist unser Ziel. Kirch-Göritz änim tont« 8U Zloiro. Es wirkt in diesem Augenblick wie eine Biberkolonie, und doch war es ein Bischosssommersitz,der im 14. Jahrhundert eine berühmte Wallfahrtskirche und im 16. Jahrhundert ein noch berühmteres Marienbild hatte. Aber laß uns jetzt hinabsteigen; der Habicht, der lhort fliegt, ist außer unserm Bereich. Ich erzähle Dir, so Du moch hören willst, von dem Neste vor uns. Ohnehin spielen Dmne Landsleute vom Bug und der Weichsel her eine Rolle in Eer Geschichte der Stadt."
„Da bin ich neugierig," erwiderte Tubal, „obschon ich fürchten muß, wenig Schmeichelhaftes, zu hören."
„Die Geschichte schmeichelt selten:," fuhr Lewin fort, während sie ihren Weitermarsch antraten.,
„Eines Tages, ich gehe gleich in irmäm8i'68, waren also die Polen im Laude, sengten, plünderten, mordeten und brachen auch in ein Frauenkloster ein, das -hier herum in unmittelbarer Nähe von Kirch-Göritz stand. (Eine der Nonnen, hart bedrängt, suchte sich des Anführers zu erwehren, und beschwor ihn von ihr abzulasseu; sie wollte ihn zum Dank dafür einen sestmachenden Spruch lehren, dessen ftlraft er gleich au ihr selbst erproben möge. Dabei kniete siH nieder. Er war auch bereit und hieb zu, während sie die Worte sprach: „In wEuo tnu8, Oornino, oorninonclo 8piritnin inoMm." Er aber entsetzte sich, als der Kopf vom Rumpfe flog.".,
„Ich kann nur wiederholen," bewirkte Tubal, „ich hätte Sagen und Historien wie diese vor den Thoren von Kirch- Göritz nicht gesucht. Aber da sind schorst die ersten Häuser des Dorfes." s (Fortsetzung folgt.)
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Wersönliche Erinnerungen aus den Jahren 1848
1850.
'Nachdruck verboten Ges. v. 11./VI. 7».
VII.
Wie die Neugestaltung Frankreichs und seiner Regierungsform damals in den maßgebenden Kreisen Preußens angesehen wurde, darüber liegt mir ein Schreiben vor, welches ich wohl als aus bester Quelle stammend bezeichnen darf. Es heißt darin: „Aber das kinxirs tranyum wird nächstens dastehen und der einzige wichtige Zielpunkt einer richtigen Politik werden. Die Anerkennung erfolgt nach menschlichen Begriffen gewiß und dann haben wir einen meineidigen, rücksichtslosen, ehrgeizigen Bösewicht uns gegenüber, der zunächst unumschränkt über eine völlig aufgelöste Nation regiert, die mit Recht und zu ihrer Schande in ihm ihren Wohlthäter und Erretter sieht und sehen muß. Die Allianz mit der römischen Kirche ist verhängnißvoll. Sie wird zunächst darin praktisch, daß die französischen Angriffe sich gegen Rußland und Preußen richten. Durch diesen Umstand kann Oesterreich in schwere Irrwege gerathen. Die deutschen Fürsten haben es dann bequem ihm zu folgen, besonders da sie den Erben des protootonr cla In eontockernt.ion 6n Uliin hinter sich haben."
Daß insbesondere das letztere kein bloßes Spiel der Phantasie war, darüber liegt mir ein Schreiben aus ebenso guter Quelle vor, datirt vom 3. November, dem Tage der Entlassung des Ministers von Radowitz. In demselben heißt es: „Wie die Dinge liegen, gibt es in den politisch-diplomatischen Regierungskreisen Deutschlands jetzt drei Parteien, nicht zwei, wie man irrig und der guten Sache nachtheilig annimmt.
Erstens die preußische, bisher »monistische, die etwas von diesem unirenden Charakter nothwendig wird beibehalten müssen, obschon ohne Verfassung vom 28. Mai, »welche nur dazu gedient hat, den natürlichen preußischen Einslulß zu zerstören; zweitens die österreichische, auf die Negativs gestellt, stets verhindernd, daß sich in Deutschland etwas Pe-.ffitives bildet, was einen ihnen unangenehmen Einfluß in Oesterreich gewinnen könne; drittens die Rheinbundspartrei, die mächtig geworden ist durch Spaltung von Preußen w nd Oesterreich. Sie arbeitet ganz im Geiste des alten Rheinbundes. Im Innern will sie die damalige absolutistische Sonuveränetät, im Aeußeren Vergrößerung auf Kosten Preußens, »wenn es geht, und der kleinen Staaten*). Sie scheut nicht nur nicht, sondern wünscht das Bündniß mit Frankreich erneuern zur können. Der Kern dieser Partei ist der alte Rheinbund: Bai, :rn, Würtem- berg, Darmstadt; locker dazu gehört Sachsen, gcztr nicht Hannover und Braunschweig. Unser Freund Hcissenpsiflug hat sich ganz unnatürlicher Weise dazu einfangen lassen, so lcdaß er nichts dabei findet, wenn Frankreich in Folge eines Bundxesbeschlusses
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*) Letzterer Gedanke wurde bekanntlich von dem damaligen bayrischen Minister von der Pfordtcn zn^ einem offiziell vorgcwlegten Plane verarbeitet, wonach Preußen und Oesterreich im Präsidium P des deutschen Bundes abwechseln und die Kleinstaaten mediatisirt, aber ^ je nach ihrer geographischen Lage au die fünf Königreiche vertheilt werden sollten. Glücklicher Weise wurde dieser Plan in Berlin durchscha mit und nicht gerade sehr verbindlich abgelehnt. U