Heft 
(1878) 21
Seite
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Wo norm.

Von v. W. Herbst.

Nachdruck verboten. Ges. v. 11 ./IV. 70.

Der Papst, der über ein Menschenalter die Gedanken der Welt in Spannung gehalten und noch einmal den großen Prinzipienkampf zwischen Staat und Kirche heraufbeschworen hat, ist nun in das Reich des Friedens eingegangen, so bald nach dem ersten König des neuen Italiens, seinem siegreichen Gegner. Dies dichte Nebeneinander hat etwas Tragisches. Und auch das ergreift uns Deutsche eigen genug, daß der andere Fürst, in dem der Papst seinen noch ärgeren Feind sah, weil er ein Ketzer in seinen Augen war, unser Kaiser der überlebende ist. Der Tod versöhnt, sagt man, aber der Tod rückt auch das Gegenwärtige in das Licht und Gericht der Geschichte. Diesen Wahrspruch schon jetzt zu sprechen, ist nicht möglich und nicht unseres Amtes. Aber das dürfen wir sagen: Pius IX war ein Todfeind alles dessen, was den Deutschen der Gegenwart mit Stolz und Freude erfüllt. Wie je ein Papst des Mittelalters, grollte er dem Kaiser und dem Reich.

Ja, der Gegensatz zwischen dem neuen deutschen Reiche und der alten römischen Kirche ward immer schärfer, die Sprache der letzteren immer unversöhnlicher. Ein Ueberbieten schien nach der letztjährigen Allocution des Papstes an die deutschen Pilger kaum denkbar, da das Wort der Kirche, das zugleich eine That war der Bannstrahl eine rostige und gegen prote­stantische Fürsten unbrauchbare Waffe geworden ist. Solcher Zuspitzung der Gegensätze geht natürlich die Leidenschaft des Urtheils zur Seite, und es ist schwer, wenn nicht unmöglich, durch die trüben Wolken von Erbitterungen und Verstimmungen hindurch zur Wahrheit und Gerechtigkeit vorzudringen. Und wie zwischen den Prinzipien der heftigste Streit auf- und ab­wogt, so ist das nicht minder, ja vielleicht noch mehr den leitenden Personen gegenüber der Fall. Meinte das Oberhaupt der Kirche durch den Vergleich mit der barbarischen Gottes­geißel Attila die Lenker des Reiches treffend zu charakterisiren, so lächelte man in Deutschland, und nicht blos im prote­stantischen, über das geschmacklose Wort, aber man murrte auch über einen faselnden Greis, der sich den Unfehlbaren nannte. Unsere Aufgabe ist es nicht, diese Verbitterungen zu steigern, vielmehr mit Ruhe zu sehen, mit Gerechtigkeit zu urtheilen und vor allem den Personen die Schuld nicht ans- zubürden, die in den Sachen, in den Grundsätzen, im Sy­stem liegt.

Gewiß bildet Pius' IX lange und inhaltschwere Regierung eine denkwürdige Epoche der Zeit- und Kirchengeschichte, aber doch war er nur der Vollstrecker eines übernommenen Vermächtnisses, der Thäter überlieferter Gedanken. Am Abend seines Lebens sah er zwei große Ergebnisse vor sich: den Verlust der weltlichen Papstherrschaft und eine scheinbare Einheit und Stärke der geist­lichen Herrschaft, wie sie seit Jahrhunderten nicht bestanden. DerGefangene im Vatikan", der angebliche Märtyrer, führte eine Sprache rücksichtslosester Freiheit. Was einst ein römischer Dichter von der unverwüstlichen Lebenskraft des alten Römer­volkes gerühmt hat:Tauche es in die Tiefe, herrlicher wird es emporsteigen; kämpfe mit ihm, ruhmvoll wirft es nieder den unverletzten Sieger; durch Schaden, durch Morden, ja von dem Schwerte selbst gewinnt es neue Macht und neuen Muth," fast scheint dies Wort auch auf die Widerstandskraft der römi­schen Kirche anwendbar. Wir wiederholen, der greise Papst, der neben unserm Kaiser und wie dieser im Mittelpunkte der Zeitgeschichte stand, war nicht der Erfinder der Ideen, die er vertrat. Ueberhaupt stehen zu seinem Wirken in keinem Ver- hältniß seine angeborenen Gaben, die von den Kundigsten nur für mittelmäßig gehalten wurden. Immerhin gibt sein persönliches Wesen und sein Lebensgeschick diesen Ideen be­sondere Färbung. Darum liegt es nahe, in einem Lebens­bilds dieses schicksalsvollen Mannes die Erklärung für so manche Vorgänge der Welt- und Kirchengeschichte unserer Tage zu suchen. Doch freilich müssen wir uns hier bei überreichem Stoff an kurzen und besonders charakteristischen Zügen ge­nügen lassen. _

Zu Siuigaglia, dem Sena Gallica der Alten, wo vor zweitausend Jahren Hannibals Bruder den römischen Waffen erlag, am adriatischen Meere in den Marken stand die Wiege des neunten Pius. Sein Vater war der Graf Hieronymus Mastai- Ferretti, der angesehenste Mann der kleinen Seestadt, dessen Familiengeschichte auf venetianischen Ursprung zurückwies. Die Kindheit hervorragender Männer ist in ihrer Art und ihrem Verlauf wie eine Weissagung auf die Zukunft des Mannes­lebens. Johannes Maria Mastai war unter vier Söhnen der jüngste, der auf die ohnehin mäßigen Glücksgüter der Eltern keinen Anspruch hatte. Der Soldatenstand oder die Priester­lausbahn war seine natürliche Bestimmung. Sein Vater, ein ein­facher fester Mann, übte geringeren Einfluß auf den Knaben von seltener Schönheit, als seine fromme Mutter, eine geborene Gräfin Solazzi, die keinen lieberen Gedanken kannte, als ihren Benjamin dem Kirchendienste zu weihen, die in seinem Vornamen schon diesen Beruf ansdrücken wollte. Vor allem war es die eifrigste Marienverehrung, zu der die Mutter ihr Kind erzog. Der Eifer für die Ehren der Kirche wurde früh belebt und entzündet durch die Leiden, welche die gleichzeitigen Päpste Pius XI und Pius XII von dem revolutionären Frank­reich und von Bonaparte zu erdulden hatten.

Seine Jugendbildung erhielt der Knabe im Collegium der Piaristen zu Volterra in Tuscien, wo er vom Jahre 1802 bis 1808 in den alten Sprachen, in Geographie und Ge­schichte, in Mathematik und Naturwissenschaft, in Philosophie und Religionslehre unterrichtet wurde. Seine Führung, seine Fortschritte werden gerühmt, aber ein böser Feind wird immer mehr Herr über sein leibliches Leben, die Fallsucht. Man schrieb das erste Auftreten der dämonischen Krankheit einem Unfall in den Knabenjahren zu, wo der junge Mastai beinahe in einem Weiher ertrunken wäre. Diese Krankheit wurde be­stimmend für sein Lebensgeschick. Er trat 1809 durch Er- theilung der ersten Tonsur in die Reihe der Kleriker. Wenn ein Conte in den Kirchendienst tritt, so hat er große Dinge vor; hohe Erwartungen, Aussichten und Absichten knüpfen sich an diesen Schritt. Die Folgejahre verbrachte der sieche Jüng­ling in der stillen Zurückgezogenheit seines Hauses. Als aber Pius XII kurz vor dem Sturze Napoleons aus seinem Exil in Frankreich nach Rom heimkehrte, war auch der junge Graf Mastai in seinem Gefolge. Zum ersten Mal sah dieser die ewige Roma mit ihren noch lebenden Erinnerungen aus der alten und der christlichen Welt. Er durchzog betend und feiernd die Hauptkirchen der Weltstadt und blieb dann im Hause eines Oheims, um sich durch das Hören von Vor­lesungen am Collegium Romanum auf den Priesterstand vor­zubereiten. Die Wissenschaften waren nicht sein Feld und er ist hier nie über oberflächliche Kenntnisse hinausgekommen; Mängel und Schäden, die aller Glanz seines späteren Wirkens nicht verhüllen konnte. Natur und Neigung in ihm gingen auf praktisches Wirken. Er trat zugleich als Lehrer in das Waisenhaus von Tatagiovanni, der Schöpfung eines schlich­ten Maurers, Johannes Borgt. In dieser kleinen, aber arbeitsvollen Welt übte er seine Kräfte. Aber gerade mitten in diesem Schaffen regten sich Zweifel über seine Bestim­mung. Man sagt, eine tiefe Jugendliebe habe ihn an seinem geistlichen Berufe irre gemacht. Er wollte in die päpstliche Noblegarde eintreten. Aber der blasse Jüngling wird zurück­gewiesen; bald darauf findet man ihn unter heftigen epilepti­schen Zuckungen auf der Straße liegen. Papst Pius XII selbst redete ihm Muth und Hoffnung ein und wies ihn an die Gnadenmutter von Loretto. Fast zwei Monate verbrachte er dort in geistlichen Hebungen, sich dem Dienste der Kirche ge­lobend, wenn die heilige Jungfrau ihm den Bann des Siech­thums abnähme. So geschah es oder so wurde es geglaubt. Mastai war nun von 1817 , nachdem er die vier niederen Weihen erhalten hatte, sechs Jahre lang als Mitleiter des Waisenhauses thätig und zugleich mit dem Abschluß seiner