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im Publikum als unter den Studenten, bei denen der Prorektor gar nicht beliebt war.
Unsere Schlitten eilten denn auch möglichst rasch vom Schauplatz hinweg, ihn der Sorge des Publikums überlassend.
Als die Fahrt vorüber war, brach bereits die Nacht an, die uns zu einer anderen Festlichkeit der Fastnacht rief, die außer in Marburg wohl sonst nirgends mehr angetroffen wird, vielleicht aber noch heute daselbst fortbesteht
Das Gewand der Semiramis war unterdessen sorgfältig geschont worden, ich hing es daher mit großer Genugthuung über eine Stuhllehne in meinem Zimmer, legte die Goldkrone > auf den Tisch und eilte dann mit Freund Kurländer dem neuen Schauplatze zu.
Derjenige Theil der Stadt Marburg, der von der schönen Elisabethkirche bis über die Anatomie hinaus sich au einem Bach, Ketzerbach genannt, hinzieht, führt seinen Namen eben nach diesem Bache, in dem ehemals die Hexen ertränkt oder an dessen Ufern sie verbrannt wurden. Konrad von Marburg, der Beichtvater der heiligen Elisabeth, hielt dort seine zahllosen Ketzer- und Blutgerichte.
Nun herrschte zur Erinnerung an jene Greuelgerichte zu Marburg der Brauch, alljährlich an jenem Tage einen kolossalen Scheiterhaufen an derselben Stelle zu errichten, wo einst jene Ketzer verbrannt wurden.
Alle Mägde der Stadt sammelten das Jahr hindurch ihre abgenutzten Reisigbesen als Symbol der Hexen, und aus diesen wurde dann der Scheiterhaufen errichtet.
Um diesen gewaltigen lichterloh brennenden Flammenstoß sammelte sich Jung und Alt und umkreiste ihn singend in weiten Ringelreihen und stets wiegendem Gange bis spät in die Nacht hinein.
Natürlich fehlten da die Musensöhne nicht leicht, obwohl es bei dieser Gelegenheit meist Händel mit den sehr reizbaren Ketzerbachern gab, freilich nicht der alten an dieser Stelle verbrannten und ertränkten Hexen, sondern einer jüngeren, viel gefährlicheren Generation von Hexen wegen, deren Zauberkünsten schon mancher edle Musensohn erlegen war.
Es war nun alte Sitte, daß, wenn der riesige Scheiterhaufen zusammengestürzt war und die Reste qualmend verrauchten, eine der schönen Ketzerbacherinnen, von der dortigen männlichen Jugend selbst dazu auserwählt, als Erinnerung an die alte Feuerprobe der Hexen, einen Kranz in das Feuer warf und laut und vernehmlich aufforderte, ihr denselben wieder herauszuholen. Wer diese That glücklich vollbrachte, hatte dann das Recht, dieser Schönen einen Kuß zu geben.
Letzteres war nun zwar nach glücklich vollbrachter That ein ganz angenehmes Geschäft, diese selbst aber doch etwas kitzlicher Natur, denn es war nur äußerst selten gelungen, den Kranz zu retten, weil er in der großen Hitze fast augenblicklich verbrannte. Wer aber doch siegte, der pflegte sich derartig Finger und Nase zu verbrennen, daß er für seine ganze Lebenszeit wenig Neigung mehr empfand, mit Hexen wieder in Berührung zu kommen.
Diesmal nun war die Rolle der Kranzwerferin einer wahrhaft ideal-schönen Ketzerbacher Jungfrau zugetheilt, die Helena hieß, allgemein die „schöne Helena" genannt, und von Groß und Klein der ganzen Stadt und Umgebung bewundert wurde.
Als diese uun den Kranz ins Feuer geworfen und zu dessen Wiederbringung aufgefordert hatte, schoß Freund Kurländer wie ein Pfeil in den zitternden Rauch des Trümmerhaufens, brachte glücklich den bereits brennenden Kranz heraus und legte ihn zu den Füßen der schönen Helena nieder.
Er hatte zwar ein etwas geschwärztes Gesicht, versengtes Haar und angebrannte Kleider, aus welchen ein Regen von Goldfunken stäubte, davon getragen, war aber sonst unverletzter Held des Tages. Natürlich rief die selten so glücklich vollbrachte That den größten allseitigen Jubel hervor, und der gefeierte Sieger verfehlte nicht, von seinem liebenswürdigen Rechte Gebrauch zu machen. Der Zauber der ideal-schönen Helena mochte jedoch wohl die arithmetischen Kenntnisse des glücklichen Siegers etwas ins Wanken gebracht und verwirrt haben, er wurde wenigstens jedenfalls mit dem Zählen irre,
so daß er dem ersten noch einen zweiten, ja einen dritten Kuß hinzufügte.
Dies ging nun freilich gegen die Kleiderorduung, und die Ketzerbacher waren nicht gewillt, sich eine neue vktroyiren zu lassen. Plötzlich verwandelte sich der Sturm des Beifalls in ein wahres Geheul des Unwillens über die poetische Licenz des neuen Paris.
Unter Anführung eines sehr krakehlsüchtigen jugendlichen Kleiderkünstlers, dem eine Nebenbuhlerschaft bei der schönen Helena nicht behagen mochte, drang die streitbare Jugend lärmend und drohend auf Freund Kurländer vor, um welchen wir Kameraden uns sofort scharten.
Die schöne Helena selbst schien zwar nicht sehr erbaut von dieser aggressiven Art ihrer Freunde, vielmehr gewillt, sich auf unsere Seite zu neigen, denn sie stürzte mitten zwischen die Streitdrohenden, und suchte händeringend Frieden zu stiften, was freilich wenig half.
Es machte einen tragikomischen Eindruck, als sie zuletzt in höchster Erregung den Ihrigen zurief: „Wenn ich nicht klage, was geht es denn Euch an, daß Ihr Streit sucht? Euch hat er ja nicht geküßt."
Gegen dies Argument wäre eigentlich nichts einznwenden gewesen; die hartköpfigen Ketzerbacher jedoch waren anderer Meinung und ließen sich nicht irre machen, allen voran jener jugendliche Kleiderkünstler. Dieser sprang wüthend auf Freund Kurländer zu, schlug sich als Herausforderung mit der Faust vor die Brust und rief ihm zu: „Her, Du Studirmachergesell!"
— so nannten damals die Handwerksbnrscheu uns Studenten
— „her, wenn Du Kurasche hast!"
Jetzt entspann sich ein Zweikampf, dem an Originalität wohl schwerlich einer der vielen vor Troja gleichkam.
Wir Studenten auf der einen Seite, die Gegner auf der anderen, hielten wie verabredet ein, um diesem Zweikampfe in höchster Spannung zuzuschauen.
Der zornschnaubende Kleiderkünstler war nämlich plötzlich wie eine Tigerkatze an Freund Knrlüuder in die Höhe an dessen Kehle gesprungen und begann ihn mit beiden Händen so energisch zu würgen, daß jener braun und blau im Gesicht ward.
Dieser aber, ein sehr großer, herkulisch starker Recke, packte mit der Linken die beiden Handgelenke des Gegners wie in einen Schraubstock, schritt dann mit ihm zum nahen Bach, riß den Angreifer mit einem Ruck von sich los, und schleuderte ihn hoch in die Luft, so daß er, alle Viere von sich streckend, fast in den Bach fiel, aus dem er, wie eine gebadete Maus, ans Ufer kroch und verschwand, oder wie man jetzt poetischer sagt, verduftete, denn der Ketzerbach Pflegte bisweilen stark parfümirt zu sein.
Lauter Siegesjubel und unsterbliches Gelächter erschallte da von unserer Seite weit hin.
Das nahmen aber unsere Gegner als höhnende Herausforderung und griffen mit dem alten hessischen Schlachtrufe: „Schuri!" bei welchem kein Wanken und Weichen gilt, und blind drauf los gestürmt werden muß, zu Prügeln und Steinen.
Trotz unserer Anzahl und Tapferkeit waren wir zu schwach gegen die viel größere Masse der Gegner, die stets neuen Zuwachs erhielten; wir mußten zuletzt das blutige Feld räumen. Ich erhielt zum Kehraus, als Finalkadenz, noch einen energischen Steinwurf an den Kopf, der mir das Hirn so erschütterte, daß ich jahrelang an den Folgen zu leiden hatte, und es noch jetzt, nach mehr als fünfzig Jahren, bei heftiger Bewegung, leise zu spüren vermeine.
Verwundet und stark blutend, voll neuerwachter Sorgen wegen meiner Frau Taute, kam ich, geführt von Freund Kurländer, nach Hause, wo mein Freund mich nothdürftig in seinem Zimmer verband.
So hoffte ich, erschöpft und todtmüde, im Schlafe Ruhe zu finden. Es war des Elendes noch nicht genug. Als ich in meinem Zimmer die Lampe angezündet hatte und aufschaute, erstarrte ich vor Schreck und vor Zorn.
Mylord, die abscheuliche Kreatur, hatte das kostbare Prachtgewand der Königin Semiramis vom Stuhle gezerrt, sich wohlgefällig ein Lager darauf bereitet' und zum Zeitvertreib überall