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zu Naturen wie Mariens unwiderstehlich hingezogen fühlen, ohne daß diese Naturen die Liebe, die ihnen entgegen getragen wird, jemals erwidern können. Den Charakter zieht es zur Phantasie, aber nicht umgekehrt."
Othegraven, indem er die Seidentopfschen Worte hin und her wog, lächelte schmerzlich.
„Es ist so; der Alte hat Recht. Und so werde ich denn liebelos durch dieses Leben gehen; denn nur die Seite des Daseins, die mir fehlt, hat Reiz für mich und zieht mich an. Und so ist mein Loos beschlossen. Trage ich es; nicht nur weil ich muß, auch weil ich will. Thne was dir geziemt. Aber ich hatte es mir schöner geträumt; auch heute noch."
Während dieses Selbstgespräches war der Conrector in Podelzig eingefahren und passirte die Stelle, wo er dem alten Rysselmann begegnet war. Er entsann sich der gehobenen Stimmung, in der er noch zu ihm gesprochen hatte, und wiederholte vor sich hin: „ja, schöner geträumt; auch heute noch!"
XXIX. Sylvester in Guse.
Der Brief, den Hoppenmarieken mit dem Bemerken, „is hüt dis een man" an Berndt überreicht hatte, war während der unmittelbar folgenden Scene vergessen worden. Erst als unsere Zwergin vom Forstacker, als sei nichts vorgefallen, in alter Munterkeit vom Hof her in die Dorfstraße einbog, entsann sich Berndt des Schreibens wieder, das ans Kirch-Göritz war und die Aufschrift trug: „An Fräulein Renate von Vitzewitz. Hohen-Vietz bei Küstrin." Er gab den Brief an Lewin, der nun den langen Korridor hinnnterschritt, um ihn Renaten persönlich zu überbringen.
In dem Krankenzimmer war es hell, Renate selbst ohne Fieber, nur noch matt. Kathinka saß an ihrem Bett, während Maline seitab am Fenster stand und eine der Calvillen schälte, die sie sich am Abend vorher geweigert hatte, aus dem alten Spukesaal heraufzuholcn.
„Ist es erlaubt'?" fragte Lewin und nahm einen Stuhl. „Ich komme nicht mit leeren Händen; hier ein Brief für Dich, Renate."
„Ach, das ist hübsch! Ich wollte, daß alle Tage Briefe kämen. Kathinka, nimm Dir das zu Herzen, und Du auch, Lewin. Ihr verwöhnten Leute habt keine Ahnung davon, was uns in unserer Einsamkeit ein Brief bedeutet."
Während dieser Worte hatte sie das Siegel erbrochen und sah nach der Unterschrift: „Doktor Faülstich". Es konnte nicht anders sein; wer außer ihm in Kirch-Göritz hätte Veranlassung haben können, an Fräulein Renate von Vitzewitz zu schreiben! Der Brief war übrigens vom 29., also nur einen Tag verspätet.
„Lies ihn uns vor," sagte Kathinka, „so Du keine Geheimnisse mit dem Doktor hast."
„Wer weiß; ich will es aber doch wagen." Und sie las: „Mein gnädigstes Fräulein! Ein Richterspruch, der keinen Appell gestattet, hat Sie auserkoren, bei der am Sylvester in Schloß Guse stattfindenden Vorstellung mitznwirken. Mehr noch, Sie werden die Festlichkeit zu eröffnen und beifolgenden Prolog zu recitiren haben, den ich, trotz des bis hierher angeschlagenen Direktorialtones, in meiner geängstigten Dichtereitelkeit Ihrer freundlichen Beurtheilnng, speziell auch der Nachsicht der beiden jungen Herren, die mich gestern durch ihren Besuch erfreuten, empfehle. Voll berechtigten Mißtrauens in unsere Kirch-Göritzer Postverhältnisse, habe ich geschwankt, ob es nicht vielleicht gerathen sei, diesen Brief durch einen Expressen an Sie gelangen zu lassen; vierundzwanzig Stunden aber für eine Entfernung, die selbst mit dem Umweg über Küstrin nur anderthalb Meilen beträgt, sind reichlich bemessen, und so hege ich denn die Hoffnung, diese Zeilen sammt ihrer Einlage rechtzeitig bei Ihnen eintreffen zu sehen. Has visu, vons xrsnus, VOU8 st ma lsttrs änll8 8N Aaräs! Mit diesem Wunsche, der sich in Form und Sprache fast mehr schon gegen Guse, als gegen Hohen-Vietz verneigt, Ihr treu ergebenster Doktor Faulstich."
„Allerliebst," sagte Kathinka.
„Ich gebe Euch auch noch die Nachschrift." Und Renate las weiter: „Die Toilette, mein gnädigstes Fräulein, darf Sie nicht beunruhigen, trotzdem es niemand geringeres als Melpomene selbst ist, der ich meine Prologstrophen in den Mund gelegt
habe. In wie vielen Beziehungen auch die neun Schwestern von Klio bis auf Polyhymnia sich beschwerlich erweisen mögen, in einem Punkte sind sie bequem: in der Kostümfrage. Der Faltenwurf ist alles. Ich vertraue übrigens, wenn wir eines Raths benöthigt sein sollten, auf Demoiselle Alceste, die mit Hilfe Racines und seiner Schule seit vierzig Jahren unter den Atriden gelebt hat, und die Staffeln zwischen Klytemnästra und Elektra beständig aus und niedergesticgen ist."
„Ach, wie schade!" rief Maline vom Fenster her, ganz nach Art verwöhnter Dienerinnen, die sich gern ins Gespräch mischen.
„Ja, da hast Du Recht," sagte Renate, halb in wirklichem, halb in scherzhaftem Unmuth, während sie den Brief wieder zusammenlegte. „Da blitzt es nun mal einen Augenblick herauf, aber nur um mir das Dunkel meiner Hohen-Vietzer Tage wieder um so fühlbarer zu machen. Verzeihe, Kathinka, daß ich undankbar Deines Besuches und der Stunden vergesse, die Du mir an meinem Bett und auch vorher schon weggeplaudert hast, aber daß ich um diese Fahrt nach Guse komme und um Demoiselle Alceste, und um meinen Prolog, das verwinde ich mein Lebtag nicht. Sage selbst: als Muse, als Melpomene; wie das schon klingt! Und von einer französischen Schauspielerin eigenhändig drapirt! Ich kann siebzig Jahre alt werden, ohne zu so was Herrlichem je wieder aufgefordert zu werden."
„Aber ist es denn unmöglich?" fragte Kathinka. „Du fühlst Dich wohler, das Fieber ist fort. Komm mit, wir stecken Dich in einen Fußsack und von oben her in einen Pelz."
Renate schüttelte den Kopf. „Das darf ich dem alten Leist nicht anthun. Wenn ich ihm stürbe — das verzieh' er mir all mein Lebtag nicht. Nein, ich bleibe; und Du, Kathinka, mußt die Rolle sprechen."
.Ich?"
„Ja, Du hast keine Wahl. In dem Salon unserer Tante ist, wie Du weißt, außer Dir und mir nichts von Damenflor zu Hanse, und wenn Demoiselle Alceste — ich habe die Strophen eben überflogen — nicht als ihr eigener Herold auftreten, sich ankündigen und vielleicht auch verherrlichen soll, so bleibt Dir nichts übrig, als den Prolog zu sprechen. Du hast ohnehin die Melpomenefignr. Aber ich glaube fast, Du thust es ungern."
„Nicht doch, ich mißtraue nur meinem Gedächtniß."
„O! da schaffen wir Rath," sagte Lewin. „Es sind noch zwei Stunden, bis wir aufbrechen, vor allem aber haben wir noch die Fahrt selbst; ich werde Dir unterwegs die Strophen recitiren, einmal, zweimal, und.im Nachsprechen wirst Du sie lernen. Die frische Lust erleichtert ohnehin das Memoriren."
Kathinka war es zufrieden. So trennte man sich, da nicht nur die Tischglocke jeden Augenblick geläutet werden konnte, sondern auch das Wenige, was außerdem noch an Zeit verblieb, zu Vorbereitungen nöthig war, die sich für die Lada- linskischen Geschwister mehr noch auf ihre Abreise überhaupt als auf die Fahrt nach Guse bezogen. Sie hatten nämlich vor, wenn die Tante sie nicht festhielt, in derselben Nacht noch nach Berlin zurückzukehren.
Um vier Uhr hielt das Schlittengespann mit den Schneedecken und den rothen Federbüschen, dasselbe, das am dritten Weihnachtsfeiertage Lewin und Renaten nach Guse hinübergeführt hatte, vor der Rampe des Hauses und nach herzlichem Abschiede von Tante Schorlemmer, auch von Jeetze und Maline, die sich mit ihrem Schürzenzipfel eine Thräne trocknete und immer wiederholte: „wie schön es gewesen sei" und: „solch liebes Fräulein" rückten sich endlich die Ladalinskis auf ihrer Polsterbank zurecht, während Lewin den Platz aus der Pritsche nahm. Der alte Vitzewitz, der noch an Turgany zu schreiben und seinen Bericht über die Resultate der Haussuchung beiznfügen hatte, hatte zugesagt, in einer Viertelstunde mit den Ponies zu folgen.
„Ich überhole Euch doch! Was gilt die Wette, Kathinka?"
„Du verlierst."
„Nein, ich gewinne."
Gleich darauf zogen die Pferde an, und der leichte Schlitten flog mit einer Schnelligkeit dahin, die zunächst wenigstens für die Chancen Berndts besorgt machen konnte.
Kathinka, wie am Abend vorher auf der kurzen Fahrt nach Hohen-Ziesar, hatte auch heute wieder die Leinen ge-