Durch das ganze Reich gehen die Klagen über die Lauheit, Leichtfertigkeit, Dreistigkeit, ja Frechheit, mit welcher heutzutage in den unteren Schichten der Bevölkerung gerichtliche Eide, seien es nun Zeugeneide oder Prozeßeide, geschworen werden. Wer auf der Höhe gerichtlicher Praxis steht, kann darüber, daß diese Klagen, ehrenwerthe Ausnahmen selbstverständlich abgerechnet, vollkommen berechtigt sind, nicht im Zweifel sein. Man frage vielbeschäftigte Anwälte, und man wird erfahren, daß in Civilprozessen, in welchen es schließlich auf den Eid ankommt, um die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser oder jener Thatsache endgiltig zu erweisen, jede Partei daraufhindrängt und ihren Anwalt bestürmt, nur ja dafür zu sorgen, daß sie — die Partei — zum Eide verstattet wird; man wird erfahren, daß die Partei sich meist mit einer gewissen unseligen rssorvatio irmntalm tröstet, daß sie sich sagt: „Mein Anspruch ist ja unzweifelhaft begründet, ich habe ja Recht, ich kann doch mein Recht mir nicht nehmen lassen, also kann ich auch jeden Eid leisten, mag er lauten wie er Willi" Man sehe sich dann die Eidesleistungen selbst an, und man wird in vielen Fällen gewahren, daß Eide geleistet werden trotz aller Ermahnung und Verwarnung, so daß dem Richter die Haare zu Berge stehen, ohne daß er etwas anderes zu thun vermag, als höchstens die Akten an die Staatsanwaltschaft abzugeben zur Prüfung, ob gegen den Eidesleister einzuschreiten sei. Man frage dann die Staatsanwalte, und sie werden uns sagen, daß es nur in den seltensten recht gröblichen Fällen gelingt, eine Bestrafung herbeizuführen, daß in den meisten Fällen aber die Nachforschungen vergebens sind, meist aus dem Grunde, weil auch der Gegenbeweis auf eidlichen Aussagen beruht und der Staatsanwalt nicht weiß, ob er diesem trauen darf oder nicht. Man gehe endlich in die öffentlichen Gerichtssäle und höre den Untersuchungsverhandlungen zu. Man wird in einer und derselben Sache Eide mit dreister Stimme schwören sehen, die sich so diametral gegenüber stehen und sich so widersprechen, daß sie vollkommen unvereinbar sind und die Ueberzengung sich aufdrängt: Einer von beiden hat wissentlich falsch geschworen! Wer aber? Das weiß Gott allein!
Es ist gar keine Seltenheit, daß bei dieser Gelegenheit von der einen oder der anderen Seite es zur Sprache kommt, wie ein zu vernehmender Zeuge sich außergerichtlich in Privatsachen über die Heiligkeit des Eides ausgelassen hat. Da kommen denn Aeußerungen zu Tage wie: „Der Eid ist mir gar nichts, der Eid ist mir kein Butterbrot werth!" Aeußerungen, welche die sittliche Versunkenheit und Verderbtheit, gleichzeitig aber auch die Gemeingefährlichkeit eines solchen erbärmlichen Subjektes erweisen.
Wunderbar ist dies nun freilich nicht. Wenn es vor ganz kurzer Zeit geschehen konnte, daß in einer Arbeiterversammlung Berlins die warnende Erinnerung an die französische Revolution, welche die Absetzung Gottes dekretirte, mit tausendfältigem Bravoruf und die weitere Erinnerung, daß Robespierre bald darauf das höchste Wesen wieder einzusetzen befohlen, mit tausendfältigem Zischen ausgenommen wurde, so ist es leicht erklärbar, daß der Eid, der ganz allein auf dem Glauben an den persönlichen Gott basirt und eine nichtssagende Formel wird, sobald der Gottesglaube zu Boden sinkt, einem „Butterbrot" gleichgeachtet wird. Wie aber, so fragen wir, soll es dann mit der bürgerlichen Rechtsprechung stehen, die des Eides absolut nicht entbehren kann und auf denselben als allerletztes Mittel zur Aufklärung der Wahrheit angewiesen ist?
Allerdings hat die neueste Gesetzgebung des deutschen Reiches einen Damm zur Sicherung der Rechtsprechung errichtet. Wie schon jetzt in Kriminaluntersuchungen Geschworne n»d Richter an den Eid des Zeugen nicht gebunden sind und über denselben hinweg gehen können, wenn sie diesem Eide nicht trauen, so wird es für die Zukunft auch iu Civilprozessen sich verhalten. Der Richter wird auch hier nach ganz freier Ueber- zeugung entscheiden, ob eine thatsächliche Behauptung für wahr und unwahr zu erachten sei (Z. 259 der Civilprozeßordnung.) Aber immerhin wird eine große Anzahl von Fällen übrig bleiben, in denen der Richter einen andern Anhaltepunkt als den Eid nicht hat, und er wird sich an denselben ge-
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Kunden erachten und ihn zur Grundlage des Urtels erheben müssen.
Wo findet man die Mittel, jener Kalamität wirksam entgegenzutreten? Man hat schon allen Ernstes ein Radikalmittel in Vorschlag gebracht: die gänzliche Abschaffung des Eides. So überraschend es klingen mag, so ganz unverwerslich ist der Vorschlag nicht. Denn wenn der Richter nicht mehr an den Eid, der vor ihm geschworen wird, gebunden ist, wenn er denselben bei Seite legen und das gerade Gegentheil der beschworenen Thatsache zum Fundamente des Spruches machen darf, wozu daun noch ein Eid, wozu die Gefahr der Heraufbeschwörung einer Gotteslästerung und eines Verbrechens? Warum nicht blos eine sogenannte informatorische Vernehmung, aus der der Richter sich das Beste heraussuchen mag? Aber — ein Blick auf die Gefahren genügt, um diesen Vorschlag zu verwerfen. Ganz abgesehen davon, daß der Eid in allen nur irgend civilisirten Staaten als Anrufung Gottes zum Zeugen der Wahrheit in den Fällen, in welchen menschliche Einsicht nicht ausreicht, eingeführt ist und als göttliche Bürgschaft für menschliches Wort betrachtet wird, hierdurch aber eine sittlich religiöse Grundlage der staatlichen Gesellschaft bildet, abgesehen hiervon, würde die Abschaffung des Eides der gerichtlichen Lüge erst recht Thor und Thür öffnen und den Staat des einzigen Zwangsmittels berauben, das er zur Ausforschung der Wahrheit noch besitzt.
Man muß also nach andern Mitteln suchen.
Strenge religiöse Erziehung der Jugend, Heranbildung einer den heutigen destruktiven Ideen abholden Bevölkerung ist gewiß das sicherste Mittel, aber es gehört dies nicht in den Rahmen juristischer Gesetzgebung. Letztere besitzt nur ein Mittel: erhöhte Feierlichkeit bei Abnahme der Eide.
Indem wir diesem Mittel das Wort reden, gehen wir von der Ueberzeugnng aus, daß der gute Kern im großen und ganzen im deutschen Volke noch lebt, daß jene unseligen, in den Köpfen der unteren Schichten spukenden Ideen nur eine schwere Krankheit sind, die, keineswegs neu, durch verschiedene Jahrhunderte von Zeit zu Zeit bald in dieser, bald in jener Form aufgetaucht ist, stellenweise verheerend gewirkt hat, bis sie schließlich ebenso verschwindet wie sie gekommen, ermüdet und übersättigt und des Bodens beraubt, auf dem sie wucherte. Wir glauben also, daß das Volk religiösen Feierlichkeiten nicht unzugäugig ist.
Was nun aber diese Feierlichkeiten selbst anlangt, so sei zunächst ein Rückblick gestattet. Man glaube ja nicht, daß unsere Vorfahren nicht auch mit Meineiden zu kämpfen gehabt hätten. Die strengen, zum Theil grausamen Strafen, Abhauen der Schwurfinger, Stellung an den Pranger, Stäupung und dergl. liefern uns den Beweis dafür. Aber unsere Vorfahren waren auch bestrebt, durch gesetzliche und instruktive Bestimmungen eine möglichste Feierlichkeit bei Abnahme der Eide einzuführen, lediglich zu dem Zwecke, um denjenigen, der im Begriffe steht, wissentlich oder fahrlässig falsch zu schwören, noch in letzter Minute vom Verderben zu retten. So enthält die alte preußische Gerichtsordnung von 1793 die Anordnung, daß die Eide nicht, wie öfters mißbrauchsweise geschehen, unter dem Lärmen und Geräusche der Parteien, sondern in einem besonderen Zimmer unter Beobachtung von Stille und Ehrfurcht und unter Entfernung aller Zuschauer abgenommen werden sollten. Der Eidesleistung selbst sollte eine längere ausdrücklich vorgeschriebeue Vorhaltung vorangehen, die dem Schwörenden entweder zum Durchlesen zu geben oder ihm vorzulesen war. Hiervon durfte nur bei höher Gebildeten Abstand genommen werden. Für Bekenner nichtchristlicher Religionen waren noch ganz besondere Feierlichkeiten — wir erinnern z. B. au die Gebetschnur der Juden, das Waschen der Hände w. — vorgeschrieben. Ein uralter Gerichtsbrauch trat hinzu. Der Eid wurde vor einem schwarzen Tische, auf welchem ein von zwei brennenden Lichtern umgebenes Kruzifix stand, abgeleistet. In manchen Ländern legte der Schwörende, indem er die rechte Hand hoch zum Himmel streckte, die linke auf das Kruzifix oder küßte am Schlüsse das Kreuz des Erlösers. Wieder in andern deutschen Ländern wurde knieend geschworen.