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lich auf den verunstalteten, zurückgebliebenen Kops gerichtete Betrachtung zu der falschen Anschauung gelangen kann, es handele sich hier um einen „Affenmenschen", einen Menschen, der zurückweise auf einen Affenahnen.
Will man konsequent verfahren, so müssen alle derartige Mißbildungen mit Thierähnlichkeit auf einen Stammbaum des Menschen Hinweisen, welcher zu den verschiedenen, in den Mißbildungen angedenteten Thieren zurückführt. So findet man öfter die Herzform des Menschen entartet und Meckel, ein berühmter Anatom, hat nachgewiesen, daß bei Neugeborenen Herzformen Vorkommen, welche den Charakter der Herzen von Reptilien, Fischen, ja sogar Krebsen tragen. Darnach könnte man von Fisch- oder Krebsmenschen reden.
Es gibt ferner eine höchst sonderbare menschliche Mißbildung, wo die oberen und unteren Gliedmaßen eine solche Verkrümmung erfahren, daß die äußere Erscheinung eines solchen Kindes der Gestalt eines Seehundes entspricht. Geoffroy St. Hilaire hat ihr den Namen Lllooonisls beigelegt und man könnte auch mit gleichem Rechte diese Individuen „Robbenmenschen" nennen.
Es liegt auf der Hand, daß ans diesem Wege Unsinn bewiesen werden könnte. Die Mißbildungen ließen sich dazu ver- werthen, zu zeigen, daß jeder Mensch in seinen frühen Ent- wicklungszuständen einmal nicht nur allen Thieren ähnlich ist, sondern wirklich allen Thiergattungen entspricht, daß er also zu einer- gewissen Zeit wirklich Fisch, wirklich Seehund, wirklich Affe ist.
Der Mikrocephalenschädel, auf den Vogt seine Aussprüche stützt, stimmt nun aber gar nicht in dem Grade mit dem Affenschädel überein, wie er behauptet. „Der Schädel eines Mikro- cephalen, sagt Vogt, der im fossilen Zustande gefunden würde, und zwar etwas beschädigt, so daß der Unterkiefer und die Zahnreihe des Oberkiefers fehlten, würde unbedingt von jedem Naturforscher für den Schädel eines Affen erklärt werden müssen."
Dagegen der bedächtige Virchow: „Auch ein Mikrocephalenschädel, dem das ganze Gesicht fehlte und nur die Nasenbeine ansäßen, würde schon auf den ersten Blick genügen, um den Unterschied vom Affenschädel darzulegen und eine genauere Ver
gleichung der einzelnen Schädeltheile würde sicherlich überall durchgreifende Verschiedenheiten ergeben." Virchows Haupteinwand gegen Vogt ist aber der, daß er ein schlechthin krankhaftes Verhältniß mit gesetzmäßigen Entwickelungsverhältnissen in eine Reihe stellt.
Die Vogtschen Ansichten znrückweisend, bemerkte auch der Münchener Professor Kollmann auf der Konstanzer Anthropo- >
logenversammlung im Herbste 1877 , daß an solche Mikrocephale !
sich stets die Frage knüpfe: wann entsteht der eigenthümliche Zustand an Schädel und Hirn, wodurch das Wachsthum der beiden Organe sich verlangsamt und allzu früh stille hält? j Man kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen die bestimmte Antwort geben, daß diese hemmenden Einflüsse fast ausnahmslos während der frühesten Entwickelungsperiode wirksam sind.
Die Kinder kommen mit einem in allen Dimensionen schon sehr reduzirten Schädel zur Welt, der kleiner ist als bei gesunden und normalen neugeborenen Kindern. Man ist in der Regel im Stande, sofort nach der Geburt die Mikrocephalie nachznweisen. Die Ursachen des verminderten Schädelwachs- thnms sind noch nicht bekannt, wir wissen nur, daß krankhafte Prozesse der Mutter hier, das Wachsthum hemmend, einwirken.
„Es wurde früher," fährt dann Kollmann fort, „die Ansicht ausgestellt und durch eine Fülle höchst bestechender Belege erörtert, diese mikrocephalen Wesen wären ein Rückschlag der menschlichen Rasse auf einen längst verschwundenen Urahnen, ein Rückschlag zum Affen. Diese Ansicht darf heute als widerlegt angesehen werden. Die mikrocephalen Kinder zeigen krankhafte Mißbildungen oder Bildungshemmungen, die am Gehirn und Schädel auftreten. Letztere gehören in die Reihe derselben Mißbildungen oder Bildungshemmungen, die auch an anderen Organen des menschlichen Körpers Vorkommen."
Es sind also unglückliche, krankhaft entartete Menschen, um die es sich hier handelt, zurückgebliebene Individuen, hilfloser denn Thiere, aber keine lebenden Beweise einer Abstammung des Menschen von einem ganz hypothetischen affenartigen Urahnen. I)r. lll.
Wor dem Simm.
Historischer Roman von Theodor Fontane.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten. Ges. v. II./VI. 7».
XXX. Im Johanniter-Palais.
Der alte Vitzewitz war bald nach sechs Uhr früh in Berlin eingetroffen und in der Burgstraße, nur hundert Schritt von der Langenbrücke, in dem dazumal angesehenen Gasthofe „zum König von Portugal" abgestiegen. Er gab einige Weisungen an Krist, die sich auf den „Grünen Baum", wo wie herkömmlich das Gespann untergebracht werden sollte, bezogen und beschloß dann, in zwei Stunden Morgenschlaf alles was er in der Nacht versäumt haben mochte nachzuholen. Viel war es nicht, denn er gehörte zu den Glücklichen, denen, wenn die Müdigkeit kommt, Bett oder Brett dasselbe gilt.
Um neun Uhr, er hatte die zwei Stunden pünktlich gehalten, saß er frisch bei seinem Frühstück. Die Stutzuhr tickte, das- Feuer im Ofen prasselte, die Eisblumen schmolzen, alles athmete Behagen; Berndt trat an das Fenster und sah geradeaus über den Fluß hin, auf die gothischen, im Hellen Morgenschein erglänzenden Giebel des hier noch mittelalterlich gebliebenen Schlosses.
„Das kann nicht über Nacht verschwinden," sprach er vor sich hin, und begann dann, aus der Fensternische zurücktretend, sich mit militärischer Raschheit anzukleiden. Er wählte statt seiner neumärkischen Dragoneruniform, die sich für die Mehrzahl der Visiten, die er vorhatte, wohl am besten geeignet hätte, den rothen Frackrock der kurbrandenburgischen Ritterschaft und war eben mit seiner Toilette fertig, als ein eintretender Diener meldete, daß Geheimrath von Ladalinski vorgefahren sei. Berndt nahm Hut und Handschuh, drehte den Schlüssel im Schloß und saß eine Minute später an der Seite des Geheimraths, mit dem er sich brieflich zu gemeinschaftlicher Abmachung einiger Neujahrsgratulationen verabredet hatte.
Der Geheimrath war in Gala. Sie begrüßten sich herzlich, verzichteten aber ans ein eigentliches Gespräch, da der ihnen zunächst liegende Zweck ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Nur die Namen einzelner Minister und Gesandteil wurden genannt, bei denen Karten abzugeben waren, bis endlich der Wagen aus die Rampe des an der Ecke des Wilhelmsplatzes gelegenen Johanniterordenspalais rollte.
In diesem Palais wohnte der Herrenmeister des Ordens, der alte Prinz Ferdinand, zu dem Geheimrath von Ladalinski seit einer Reihe von Jahren beinahe freundschaftliche Beziehungen unterhielt, während Berndt von Vitzewitz, der ihn nur oberflächlich kannte, lediglich den Bruder Friedrichs des Großen in ihm verehrte. Hierin begegneten sich damals viele Herzen, und dem zweiundachtzigjährigen Prinzen wurden Huldigungen zu Theil, die bis dahin seinem langen und immerhin ereigniß- reichen Leben versagt geblieben waren. Er hatte die „große Zeit" mit gesehen und mit durchgekämpft; das gab ihm in ^ diesen Tagen der Erniedrigung ein Ansehen über seine sonstige Bedeutung hinaus und manche Hoffnung richtete sich an ihm auf. Auch konnte es nicht ausbleiben, daß ihm der Heldentod seines ältesten Sohnes zu Dank und Mitruhm angerechnet wurde. Dieser älteste Sohn war der in Liedern vielgefeierte Prinz Louis, der, die hereinbrechende Katastrophe voraussehend, I am Tage vor der Jenaer Schlacht bei Saalfeld gefallen war.
Der alte Prinz, als ihm die beiden Herren gemeldet wurden, war bereit dieselben zu empfangen und ließ sie bitten, ihn in seinem Arbeitszimmer erwarten zu wollen. Als sie dasselbe betraten, wurden die Rollen zwischen ihnen dahin vertheilt, daß Berndt soweit wie möglich die Konversation führen, der Geheimrath aber nur gelegentlich sekundiren solle.