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schehen werde, und vom Morgen des zweiten an umstrich die unheimliche Gestalt des Freimanns, der allzu eifersüchtig über die Aufrechterhaltung feiner odiösen Privilegien wachte, den Brunnen; ja gegen Abend wagte er sogar sein großes allbekanntes Messer tief in die Thürpfosten von Ursels Haus zu stecken, zum Zeichen, daß hier seine Gerechtsame verletzt werden solle.
Eine jähe Entrüstung darob stieg in Ursels Seele ans und mit ihr ein Gedanke der Rettung. Konnte sie nicht sich selber helfen, da alles sie verließ? Hatte sie es bisher nicht stets so gehalten in allen Dingen und war sie nicht immer am besten dabei gefahren? Zuerst wies sie den Gedanken wieder von sich. Sie schauerte vor dem gräßlichen Werk und dachte der Gefahren, denen sie sich dadurch anssetze. Würde sie nicht durch diese Handlung „unehrlich" in aller Augen, so daß jeder fortan von ihr wie vor einem Aussätzigen zurückwich; ginge sie dadurch nicht vollends des letzten Restes äußeren Ansehens verlustig? Aber dann faßte sie den Gedanken gleichsam fester und unerschrockener ins Auge. Was dagegen sprach, waren doch schließlich nur Rücksichten äußerer selbstsüchtiger Natur, die vor den höheren Anforderungen zurücktreten mußten. Sie kannte keinen anderen Weg, ein tiefes Bedürfnis; ihres Herzens zu befriedigen und eine heilige Pflicht zu erfüllen, und so beschloß sie denn, ihn einzuschlagen, mochten seine Folgen sein, welche sie wollten.
Es ist das Eigenthümliche starker Naturen, wie der Ursels, daß sie nicht mehr rückwärts blicken, wenn sie einmal mit sich selbst in: Reinen sind. Stumm und fest ging sie an die Ausführung des Werkes und schaffte alles herbei, was dazu nöthig war. Bei ihrem Hause selbst befand sich eine Strickleiter, welche zu Dach- und Brnnnenreparatnren benützt zu werden pflegte. Diese suchte sie herbei und steckte eine frische Kerze in die Feuerlaterne. Dann setzte sie sich vor das niederbrennende Feuer ihres Herdes und wartete.
Die Nacht brach frühe an. Es war eine Winternacht von kalter, menschenfeindlicher Schönheit. Am hellblauen Himmel mit den sanften Lämmerwvlken stand der Mond von einem farbigen Hof umgeben und warf seinen Schein in die stillen Gassen der Stadt und auf die hohen Giebeldächer der Häuser, daß sie erstrahlten wie schimmerndes Eis. Seltsam kontrastiven mit seinem fahlen bläulichen Licht die erleuchteten Fenster, die wie schlaflose geröthete Augen in die Schneelandschaft hin- ansstarrten. Nichts war dunkel draußen, als die länglichen Schatten der Häuser und die entlaubten Neste der Bäume. Der Schnee knarrte zu den Füßen der Wanderer, und manchmal klang das Helle Glockengeklirr heimwärts eilender Schlitten oder der laute Knall einer Hetzpeitsche durch die ruhige klare Luft.
Ursel wartete, bis all diese Geräusche erstorben waren. Manchmal blickte sie nach dem Monde, als wünsche sie, er möge sein Antlitz hinter den Wolken verbergen; aber er schien Zeuge sein zu wollen von dem, was bevorstand; manchmal auch blätterte sie mit unsicherer Hand in ihrem Andachtsbuch; aber ihre Blicke glitten scheu über die großgedrnckten Sterbegebete hinweg. Endlich schlug die Uhr draußen zwölf. Seufzend und mit Selbstüberwindung erhob sich Ursel von ihren: Sitze, nahm die Strickleiter über den Arm und verließ das Hans.
Auf den Straßen war es nun ganz still und öde geworden. Die Augen der Häuser hatten sich geschlossen, jede Hellung war erloschen, und nur das einsame Licht der Wächterstube auf dem Thurm leuchtete noch wie ein Stern.
Ursel ging muthig fürbaß. Durch die Herrengasse, um die Ecke auf den Judenbrnnnen zu. Er lag in: Schatten, und wie eine leere schwarze Augenhöhle starrte seine Oeffnung der Angekommenen entgegen. Sie setzte sich auf den Rand der niederen Mauer und blickte hinab. Von da herauf also sollte sie ihn holen, aus diesem dunklen Schachte, in dem man am Tage die Sterne des Himmels sehen konnte! Alle unheimlichen Gestalten, welche die Volksfage an d:esen Brunnen knüpfte, nmdrängten sie; aber sie hatten keine Macht iiber ihr Gemüth. Ruhig maß sie die Tiefe mit ihren Blicken und warf dann die Leiter vorsichtig hinab, nachdem sie ihre Enden an Haken in der
Mauer befestigt hatte. Seit Jahren war die Leiter nicht mehr im Gebrauch gewesen, und ihre Sprossen fühlten sich zum Theil morsch genug an. Wenn sie brachen, wenn ihr Fuß ausglitt, wenn ihre erstarrten Hände nicht Stand hielten? Was verschlug dies alles ihr? Was war ihr mehr die Welt und das Leben! Mit einer gewissen Plötzlichkeit schwang sie sich auf die erste Sprosse der Leiter und stieg in die Tiefe.
Unten angekommen, blickte sie um sich. Da lag, eine Armlänge von ihr getrennt, in dem stillen matterleuchtcten Wasserspiegel eine träge Masse. Dies also sollte seine einst so heitere Gestalt sein, noch kaum berührt von dem Zerstörnngswerk des Todes! Denn der Leib eines Selbstmörders fault ja nicht in der Erde; er wird immer härter, und die Würmer können ihn lange nicht anfressen. So lautete der Volksglaube, und Ursel theilte ihn mit ihren Zeitgenossen. Abgewandten Gesichts griff sie nach der Masse, hob sie in die Höhe und fand, daß sie leicht war; nicht so schwer wenigstens, als sie sich gedacht hatte. Sie ließ wieder ab davon, und der Körper fiel plätschernd in das Wasser zurück. Erstaunt horchte sie auf. Hatte es nicht etwas wie einen metallenen Ton von sich gegeben? Beherzter streckte sie die Hand zum zweiten Male nach dem grauen Tuche aus und zog es mit vermehrter Krastanstrengung an sich.
Dieser triefende, klingende, längliche Gegenstand war kein Leichnam. Dies zeigte der erste Blick, als Ursel aber näher hinsah, erkannte sie ihren Geldsack darin, ihren eigenen Sack mit den Gewandstücken und Schatzgeldern ans den: Nachlasse ihres Vaters. Es zuckte freudig auf in ihr, und es war nicht die Genngthuung über den wiedererlangten Besitz, nein, einzig nnd allein die Gewißheit, daß Sixt sich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe den Tod gegeben.
Aber wie war der Sack hierher gekommen? Der Gedanke, daß nur Sixt es gewesen sein konnte, der ihr ans Bosheit den verhängnißvollen Zankapfel in den Brunnen geworfen, hatte angesichts dessen keinen Stachel für sie. Mit neugeschwelltem Muthe schleppte sie den wiedergesundenen Schatz aufwärts und warf dann die nasse Last über die niedere Mauer des Brunnens.
Abermals gab es einen Hellen Ton, und Ursel fuhr zusammen, denn es war ihr, als habe sich in diesen Ton ein anderes Geräusch gemischt, etwas wie ein Räuspern, wie ein leises Husten, wie ein scharrender Tritt.
Zun: ersten Male, seit sie sich an ihr Werk gemacht, lief es ihr kalt durch den Leib; sie rollte die Augen erschreckt umher und ließ sie endlich an einem Punkte haften. Da stand ein Schatten. Deutlich hoben sich seine Umrisse von den: Hellen Schnee ab. War es der Freimann, der sie belauschte? Seine Gestalt war größer und breiter, sie erinnerte sich wohl. Der Schatten glich einen: anderen Manne.... Ursel fröstelte. So verfolgte sie also überall hin dieses Bild, das den Schlummer ihrer Nächte mit schrecklichen Träumen störte! Der kann: gehegte Hoffnungsstrahl erblich wieder. Lag er auch nicht ans dem Grunde des Brunnens, er war doch todt, konnte keine Ruhe finden im Grabe und mußte den Schatz bewachen, um den er im Leben mit ihr gerungen.
Sie stieg über die Mauer des Brunnens, und schon wollte sie mit fluchtartiger Schnelligkeit nach dem Sacke greifen, da fühlte sie sich plötzlich am Arm gepackt, und eine Gestalt drängte sich zwischen sie und das alte Streitobjekt.
„Wer da?" rief sie mit zitternder Stimme, denn sie wagte nicht aufzublicken.
Keine Antwort. Nur der Wind erhob sich leise und strich ihr kalt über das Gesicht hin.
„Alle guten Geister loben ihren Meister —" begann sie zu beten^,
Es lachte; es lachte höhnisch auf. Ursel kannte diesen Ton und diese Stimme; es ging ihr durch Mark und Bein.
„Sixt!" rief sie, „was willst Du von mir?"
„Meinen Theil!" keuchte er.
„Du hast den Sack in den Brunnen geworfen," sagte sie halb fragend, halb in dem ruhigen Tone der Konstatirung einer Thatsache.
„In der ersten blinden Wnth über die Zwietracht, die er