Heft 
(1878) 29
Seite
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Nachdruck verboten. Ges. v. 11./VI. 70.

Das Osterfest in Woskau.

Von L. Waldemar.

Milde warme Frühlingsluft weht durch die Straßen Mos­kaus. Der tiefe Schnee ist weggeschmolzen, die Straßen sind rein, und an den Bäumen der Boulevards und auf den großen Plätzen zeigt sich der erste Schimmer des jungen Grün. Frühlings­sehnen und Frühlingsahnen gehen auch durch die Herzen der Großstädter und machen sie empfänglich für die nahe bevorstehende Osterfreude. Es ist Charfreitag. Die Magazine und Kaufläden sind nicht wie in deutschen Ländern geschlossen, es herrscht keine feierliche Stille aus den Straßen, um den großen heiligen Tag besonders hervorzuheben. Im Gegentheil, ans den Märkten und auf den Plätzen sind noch größere Speisevorräthe aufgehäuft als bisher, und die Menschen drängen sich massenhaft hinzu, um die nöthigen Provisionen für die Feiertage einzukaufen. Nur in den Kirchen merkt man durch die häufigeren Gottesdienste das Nahen des großen Festes. Und doch ist bei allem diesen geschäftigen Hin- und Herdrängen und dem bunten Treiben der nahe bevorstehende Osterjubel durchzumerken. Ans den Gesichtern liegt ein Ausdruck freudiger Erwartung, bei den wenigsten ist es wohl die geistige Freude an dem Feste, die sich kund gibt; aber eine Freude empfinden alle doch, uämlich die, vou dem langen strengen Fasten, das sieben Wochen vor dem Osterfeste begonnen hat, erlöst zu sein. Ein kleiner Theil der Bevölkerung hat sich zwar vom Fasten losgemacht, die Hauptmasse aber beob­achtet dasselbe noch immer streng. Die letzte Woche schreibt nun die größte Enthaltsamkeit vor. Außer Fleisch, Eier und Butter sind nun auch Fische und Milch verboten, und die genau befolgten Vorschriften erlauben nur Suppen ans Gemüse und Pilzen, mit Fastenöl zubereitet; ebenso wird alles Brot und Backwerk mit diesem unbeschreiblich unangenehmen Oele getränkt. Auch der Genuß des Branntweins ist bei strengem Fasten ver­boten, und sehnsuchtsvoll schleicht der schlichte Arbeiter an seiner geliebten Schenke vorüber, die er jetzt nicht betreten darf, ohne eine große Sünde zu begehen. Aber auch in den höheren Kreisen macht sich eine drückende Stimmung, vom Fasten her­vorgerufen, bemerkbar. Die lange Entziehung einer kräftigen Nahrung wird in den letzten Wochen bis zur Unerträglichkeit fühlbar. Schwache Naturen werden von einer großen Mattig­keit befallen, die einförmigen Speisen bleiben fast unberührt, die Theemaschine, die auch sonst in allen russischen Häusern ein große Rolle spielt, geht nun kaum vom Tisch, und der Thee ist der einzige Tröster für die vielen Entbehrungen, die man sich auferlegen muß. Auch die Vergnügungen sind bedeutend eingeschränkt. Im Theater gibt es nur Konzerte; öffentliche Bälle sind verboten, und die an Belustigungen gewöhnte Welt kann vor Langeweile und Unbehaglichkeit den ersehnten Oster­sonnabend nicht mehr erwarten.

Nun ist endlich der ersehnte Tag herbeigekommen und jetzt beginnt auch Feiertagsstille in den Häusern. Die letzten Kn- litschi (hohe Brote aus Weizenmehl mit Rosinen) werden aus dem Ofen gezogen. Ein Kulitsch muß an diesem Tage jeder Russe haben, diesen nimmt er nebst einem rothen Ei und Pascha (eine kleine Pyramide aus gepreßter Käsemilch geformt) in die Kirche mit, wo alles vom Priester gesegnet und dann als ge­heiligt zum Essen nach Hanse gebracht wird.

Der Ostertisch wird prächtig hergerichtet; Schinken, der nie fehlen darf, Eier, Braten, Würste in den verschiedensten Ge­stalten, Brot und Kuchen in Form von Lämmern schmücken die Tafel, und wenn alles zum Ostermahle vorbereitet ist, beginnt das Ankleiden. Wie zum Balle putzen sich die Damen der vornehmen Welt, und bei dieser Gelegenheit sieht man in den Kirchen, die hauptsächlich von der Aristokratie besucht werden, prachtvolle Toiletten; die warme Kleidung bleibt in der Vor­halle, und die prächtigen seidenen und Atlaskleider und die schweren Sammetgewänder schleppen sich weithin über den Fuß­boden. Viele Damen sind in Weiß, manche in Rosa oder in Blau gekleidet, doch alle tragen Helle Farben, keine darf in einem dunkeln Kleid oder gar in Schwarz erscheinen, denn der größte, der freudenreichste Tag ist der Tag, an dem die Er­lösung der Welt sich vollzog. Die Herren kommen ebenfalls

in feierlicher Toilette, im Frack mit weißer Halsbinde. Wer zum ersten Male zum Osterfest in Moskau ist, ans den übt dieses geschäftige Sichrüsten und Sichschmücken zur heiligen Oster­nacht einen gewaltigen Zauber aus, er wird mitgerissen von einer freudigen Aufregung, und mit gespannter Erwartung eilt er in die Kirche.

Die Hauptmasse der Bevölkerung eilt dem Kreml zu, da dieser jedem Russen der heiligste Punkt ist.Unsere Akropolis, unser Kapitol, unser Zion" nennen ihn die Bewohner Moskaus und blicken gerührt zum Berge auf, von dem hinter einer hohen Mauer die goldenen Kuppeln und Kreuze der vielen Kirchen herniederglänzen. Und wahrlich, der Kreml mit seinen alten ehr­würdigen Erinnerungen verdient diese Verehrung seines Volkes, denn hier auf seinem Berge befestigte sich Rußlands Größe mehr und mehr. Hier ist das Herz und die Pulsader des russischen Volkes, hier sah es Jahrhunderte hindurch seine Czaren residiren, und jetzt noch sieht es bei jedem Thronwechsel seinen Kaiser im Kreml in der Krönungskirche seine Krone empfangen. Wie glühend die Verehrung für den Kreml ist, lesen wir auch in dem Liede des Fürsten Wjäsemski, von dem wir einige Zeilen hier deutsch wiedergeben:

,Dn Kreml, unser Schutz und Mauer, du uns're Stärke und Altar! Welch russisch Herz fühlt keinen Schauer, wenn feierlich und wunderbar Durch deiner Glocken Schall erzitternd, weithin ertönt die stille Luft, Der mächtig jede Brust erschütternd, nun Rußlands Volk zur Andacht ruft.

Und so zogen auch wir zum Kreml. Die Kremlkathedrale war um halb zwölf Uhr schon gedrängt voll. Kopf an Kopf standen die Menschen; in einer russischen Kirche gibt es überhaupt keine Bänke, und der ganze Gottesdienst wird theils stehend, theils kniend abgehalten. Jeder hat ein Wachslicht in der Hand, das man beim Eingänge für einige Kopeken kauft, und das um 12 Uhr angezündet werden sollte. Auf dem höchsten Thurme der Stadt, dem Iwan Weliki (der Große), der mit dem Kreuze ca. 108 Mtr. hoch ist, und dessen gewaltige Größe erst recht ins Auge fällt, wenn man sich außerhalb der Stadt befindet und ihn mit den anderen Thürmen vergleichen kann, drängte sich auch eine Menschen­masse; denn derjenige, der um zwölf Uhr den ersten Schlag an die gewaltige Glocke thun darf, dem steht ein großes Glück be­vor; daher kommt es vor, daß zu diesem Zweck von reichen Kaufleuten zuweilen tausend Rubel geboten werden. Man muß hierbei bemerken, daß die russischen Glockenläuter nicht die ganze Glocke bewegen, um den Klang hervorzubringen, sondern nur den Klöppel hin- und herziehen, was natürlich unendlich leichter ist und den Klang der Glocke durchaus nicht beeinträchtigt.

Jetzt schlägt es zwölf Uhr. Ans der königlichen Pforte, die vor dem Altar sich befindet und durch die nur der Priester schreiten darf, tritt der Geistliche hervor. Sein blaues, mit goldenen Sternen besäetes Atlasgewand blitzt bei der Un­zahl von Lichtern, die die Kirche schmücken; auf dem weiß­gelockten Haupte trägt er ein gleichfarbiges hohes Sammet­barett. Mit den Worten:Christ ist erstanden" begrüßt er die harrende Menge, und nun tönt weithin und gewaltig der düstere tiefe Klang des Iwan Weliki, in dessen Tönen bald die ganze unzählige Menge der Glocken der vielen Kirchen, Klöster und Bethäuser einstimmt. Jeder zündet nun eilig sein Licht an, in einem Augenblick erglänzt die ganze große Halle von einem Lichtmeer.Christ ist erstanden. Er ist wahrhaftig auf­erstanden!" geht es von Mund zu Mund. Wer Platz hat, sinkt auf die Knie, wer zu fest eingedrängt ist, beugt sich tief nieder und bekreuzigt sich. Und dieser Lichterglanz, das Dröhnen der Glocken, der schöne Gesang des wohleinstudirten Sängerchors, und das Knien und Kreuzschlagen der andächtigen Schar wirkt mächtig auf die Sinne. Fortgerissen vom allgemeinen Sturm der Freude stimmt man ein in den Jnbelruf:Christ ist er­standen!" und vergißt darüber die Hitze, die von den Lichtern und der zusammengedrängten Menschenmasse so groß ist, daß sie in weniger erregenden Augenblicken kaum zu ertragen wäre. Nach und nach wird die Kirche leerer, doch wird die hinaus­strömende Schar durch neu Eintretende ersetzt, die alle sich zum