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„Boot ahoi!"
„Ja, ja!" rief ich zurück. „Ist der Kapitän an Bord?"
„Ja!" kam die Antwort herunter. „Was soll's?"
„Vielleicht Kapitän Claus Behrensen aus Fischingen?" fragte ich.
„Teufel!" klang es von oben. „Ich scheine hier bekannt zu fein! Mit wem habe ich denn das späte Vergnügen?"
„Erfahren Sie auf der Stelle, Kapitän, wenn Sie uns eine Leiter herunter lassen!"
Während die Strickleiter an der Schiffswand niederpolterte, setzte ich dem Bootsführer mit drei Worten auseinander, um was es sich handelte. Der Mann, ein alter holländischer Matrose, war sofort bereit, unser Abenteuer zu theilen, ein um so angenehmerer Zuwachs, als wir mit dem Manne zugleich ein Boot zur Verfügung behielten. Ich kletterte also meinen Gefährten nach an Deck und kam gerade noch rechtzeitig genug, um zwischen der Ungeduld des Kapitäns und den Höflichkeiten seiner späten Besucher, welche glaubten mit einer Vorstellung anfangeu zu müssen, zu vermitteln.
„Gestatten Sie mir, Herr Kapitän," sagte ich, „daß ich mich in Ihr Gedächtniß zurückrufe. Ich lernte Sie im Juli des vorigen Jahres kennen, als Sie mit Ihrer „Else" bei Fischingen vor Anker lagen; vielleicht erinnern Sie sich eines Marineoffiziers, den Sie damals in Ihrem Boote an Bord des Kanonenbootes fuhren, neben den: Ihr Schiff lag; ich bin Ihnen noch heute meinen Dank schuldig für Ihre damalige Freundlichkeit."
Der Mann that einen halblauten langgedehnten Pfiff.
„Sollte Ihr heutiger Besuch etwa in Beziehung stehen zu den Ereignissen von damals?" fragte er, und nach dem Klange der Stimme zu urtheilen, hatte er eine Bewegung nach rückwärts gemacht.
„Beruhigen Sie sich, Kapitän," sagte ich. „Wir kommen aus einem andern Anlaß, durchaus in Ihren: Interesse. Unser gemeinsamer Freund Doktor Schrade wird Sie sofort von einen: Ereignisse in Kenntniß setzen, das Sie nahe angeht."
Der Doktor übernahm ohne weiteres das Wort, und wiederholte seine Erzählung; er schloß mit einem Anerbieten unserer Unterstützung und setzte ganz geschäftsmäßig auseinander, welche Hilfsmacht ai: Mannschaft, Waffen und Munition wir zu stellen im Stande wären.
Der Argwohn des Kapitäns war schon lange zerstreut; er drückte jedem von uns die Hand und sagte:
„Das nenne ich noch Landsmannschaft, meine Herren! Meinen Dank spare ich mir auf, bis wir unser Abenteuer bestanden haben. Es wird Sie überraschen zu hören, daß ich mit einen: Schiffsjungen allein an Bord bin, Ihre Hilfe ist also unschätzbar. Vorläufig, glaube ich, haben wir eine Weile Zeit, ehe wir unseren Besuch erwarten dürfen; der Hafen ist den Kerls noch nicht ruhig genug, wenn sie auch hier draußen auf der einsamen Rhede kaum eine Störung zu fürchten hätten. Ich denke, wir treffen mit aller Sorgfalt unsere Vorbereitungen, und Sie gestatten mir, da ich mich auf meinem Elemente befinde, die Anordnungen."
Das war selbstverständlich, und so wurden denn die Ver- theidigungsmaßregeln getroffen. Wir hatten außer den unvermeidlichen Revolvern unsere Jagdgewehre bei uns, alle doppelläufige Flinten; der Kapitän war mit Waffen gleichfalls ausreichend versehen, es blieb nur übrig, dem alten Seemanne einen Revolver und eine Büchse mit Patronen auszuhändigen, und wir verfügten, ohne den Jungen zu bewaffnen, über fünfmal so viel Schüsse, wie wir im äußersten Falle Gegner erwarten zu dürfen glaubten. Die Bewachung des Schiffes forderte einige Ueberlegung. Der Schooner ritt gegen den Strom vor seinem Anker; wir fühlten die Roller unter uns Weggehen, und die Gefahr lag nach den Umständen vorzugsweise im Heck, unserem einzigen Punkte, der in Lee war. Indessen war es von einen: verschmitzten Feinde auch nicht unmöglich, daß er seinen Ueberfall vom Bug her vollführte, wo die Ankertrosse eine gute Kommunikation nach oben herstellte. Schließlich war bei der gleichmäßigen Bewegung des Wassers auch der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß die Backbord- oder die Stener-
bordseite eine möglichst geräuschlose Annäherung zuließ: wir waren im ganzen betrachtet an keinem Punkte sicher. Die Streitkräfte wurden also vom Kapitän Behrensen strategisch vertheilt; Doktor Schrade, welcher die Chance der fünftausend Gulden keinen Augenblick vergaß, wurde am Heck postirt, ich am Bug, den Blick auf die Aukertrosse gerichtet; Rodrig übernahm die Wache an Steuerbord, der Bootsführer an Backbord. Der Junge war vom Kapitän mit einem geflüsterten Aufträge unter Deck geschickt und erschien nicht wieder; Behrensen selbst hatte sich der Stiefel entledigt und umging in: langsamen Patronillenschritte das Deck, die vier Posten in regelmäßigen Zwischenräumen revidirend. Nur auf diese Weise war es möglich, uns geräuschlos darüber in Kenntniß zu setzen, wenn an der einen Stelle etwas passiren sollte.
Inzwischen war es auch der Zeit nach Nacht geworden. Der Himmel drohte mit Regen und lag so schwarz und undurchdringlich über uns, wie die gurgelnde Flut unter uns. Für das Auge war nichts erkennbar als die leuchtenden Punkte an: Horizonte, welche die Stadt bedeuteten, und das weiße feste Feuer des Leuchtthurms; vor mir sah ich eine Spanne von der schwarzen Linie des Ankerkabels, darüber hinaus verlor sie sich im Dunkel.
Ich hatte mich auf eine aufgeschossene Trosse gesetzt, mit jener gespannten Aufmerksamkeit meine Blicke in die Finsterniß bohrend und den: leisesten Schalle lauschend, mit welcher man sich gewöhnlich an ein Abenteuer aufregender Art begibt. Aber allmählich, da die Sinne vergeblich auf eine Anregung von außen her warteten, begann das Gehirn sich gegen diesen Zwang zu empören, und die Gedanken wanderten. Sie brauchten keinen weiten Weg zurückzulegen, um Beschäftigung zu finden. Ein sonderbarer Zufall hatte mich von neuem mit einen: Mann in Berührung gebracht, den ich in einem früheren Ereignisse eine Hauptrolle hatte spielen sehen; damals waren die Räthsel, welche er hinterließ, ungelöst geblieben, Vermuthungen, vielleicht auch Wahrscheinlichkeiten hatten den Schlüssel bieten müssen; heute stand ich der Sache nicht näher als jemals, aber mein Interesse für diese vergessene Angelegenheit erwachte gleichzeitig mit der Begierde, mehr zu erfahren. Ich machte mir keinen Hehl daraus, daß es sich um Beziehungen so delikater Natur handelte, daß eine direkte Frage nicht au: Platze gewesen wäre; aber ich trat dem Kapitän Behrensen heute näher als je, und ich hoffte, daß der wichtige Dienst, den wir ihn: zu leisten im Begriffe standen, ihn sprechen machen würde. Ich war im Stande —
Unter einer leichten Berührung meiner Schulter schreckte ich auf: hinter mir stand eine schwarze Gestalt ebenso regungslos, wie ich selbst dageseffen hatte.
„Nichts, Kapitän!" flüsterte ich in die Höhe.
Der ' Schatten verschwand geräuschlos wieder in der Finsterniß.
Ich versuchte von neuem, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, aber wie vorhin ohne Erfolg. Dann ließ ich meine Gedanken zu den Freunden hinüber schweifen, und die Besorgniß überkam mich, daß das Abenteuer an einer andern Stelle so schnell äbspielen möchte, daß mir keine Zeit bliebe, daran Theil zu nehmen. Und mit dem verdoppelten Eifer, wenigstens auf meinen: Posten nichts zu versäumen, lauschte ich in die Nacht hinaus.
Nichts als ein eintöniges Geräusch drang zu meinem Ohr, der abwechselnd schwellende und wieder ersterbende Hauch des Windes, das leise Plätschern der Wellen am Bug des Fahrzeuges und ein Laut wie gleichmäßig fallender Regen von den strandwärts drängenden Wellen. Meine Begierde, etwas Aufregendes zu erleben, daß ich in der Phantasie den Ereignissen bereits vorauseilte und den armen Doktor bedauerte, welcher in der Erwartung seiner fünftausend Gulden —
Das war ein fremder Laut in den: eintönigen Konzerte der Natur, etwas wie ein leises Plätschern im Wasser, aber einer andern Ursache entsprungen, als dem Widerstande, den das Schiff der Flut bot. Ich machte eine äußerste Anstrengung, die Dunkelheit zu durchdringen, aber vergeblich: über die erste Hälfte des Ankertaues hinaus sah ich nichts als schwarzen Raum. Ich lauschte regungslos; ein paar Sekunden verstrichen,