Heft 
(1878) 32
Seite
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Ist er durchaus nicht zu sprechen?" fragt stammelnd noch einmal der aufs tiefste erschrockene Student.

Ich darf niemand anmelden," lautet der Bescheid.

Als wäre ihm das Tvdesurtheil gesprochen, wendet sich der junge Mann zum Gehen.

Alles, alles vorbei!" Dies eine Wort hallt wider in seinem Innern. Schwarze Gedanken tauchen mit dämonischer Gewalt in seiner Seele ans. In der Verzweiflung des Augen­blicks reift, als er eben die Hand auf den Griff der eisernen Gartenpforte legt, der Entschluß zn der frevelhaft vermessenen That. Da hört er eine Stimme hinter sich rufen. Dem Be­dienten war die erschrockene Haltung des jungen Mannes aus­gefallen; er meint, es könne sich doch um etwas besonderes handeln, ruft deshalb den Fremden zurück und fragt:Haben Sie vielleicht etwas abzugeben oder zn bestellen?"

Tholnck schüttelt schon verzagt den Kopf. Da denkt er an seinen Brief in der Tasche, und bittet hastig, Herrn v. Diez das Schreiben zn übergeben. Bald kehrt der Diener zurück und meldet, Herr v. Diez erwarte den Fremden.

In dem Hause des sehr wohlhabenden Herrn v. Diez war eine Reihe von Zimmern ganz nach der Sitte verschiedener orientalischer Völker eingerichtet. In dem mit werthvollen Kunst­schätzen des Orients geschmückten Studirzimmer saß der alte, besonders an den Augen schwer leidende Herr, umgeben von Pergamentrollen und Handschriften asiatischer Dialekte, in einen hellfarbigen, mit den zartesten Blumen geschmückten türkischen Kaftan, den er als Schlafrock benutzte, gehüllt. Beim Eintritt des Studenten bemühte sich eben der greise Gelehrte, offenbar verdrießlich, das Schreiben zn entfalten. Erst nach einer pein­lichen Stille ließ die mächtig dröhnende Stimme, die dem Herrn v. Diez eigen war, sich vernehmen:

Der Brief ist von Ihnen selbst an mich geschrieben? Lesen Sie nur vor; ich muß meine Augen schonen."

Ich wäre dankbar, wenn Sie sich selbst bemühen wollten," bittet der Fremde, dem der rauhe Ton durch Mark und Bein gegangen war.

Halb unwillig nimmt Herr v. Diez den Brief zurück, um ihn zn lesen. Aber er schüttelt wiederholt mit dem Kopf. Immer drohender werden die Falten seines derben Gesichts. Zitternd und bebend beobachtet der Student diese Geberden. Sie sind ihm die Vorboten einer abweisenden Antwort. Da reckt sich der alte Herr plötzlich in die Höhe und wirft zornig den Brief aus den Tisch mit den Worten:So blasse Tinte kann ich gar nicht lesen. Lesen Sie nur vor!"

Als Tholnck beim Lesen seines Briefes vor innerer Be­wegung kaum die Thränen zurückhalten konnte, ließ die ge­waltige Stimme sich wiederholt vernehmen:Nur nicht weiner­lich, das kann ich gar nicht leiden!"

Als der Brief zu Ende war, blieb Herr von Diez lange schweigend sitzen. Endlich begann er in seiner barschen Weise: Junger Mann, Sie sind ein seltsamer Mensch, ein sehr selt­samer Mensch! Aber ich glaube, die göttliche Providenz hat Sie hergeführt. Ein junger Mann, der mir bei meinen Studien half, ist schwer erkrankt; Sie kennen etwas von den Spra­chen; Sie können an seiner Stelle bei mir eintreten. Wie ge­sagt, ich glaube die Providenz hat Sie hergeführt. Aber Sie sind ein sehr seltsamer junger Mensch!"

Der Jüngling spürte in jenem Augenblick, wie er später bekannte, zum ersten Male die Hand des Vaters im Himmel, an den recht zu glauben mehr ist, als an alle Artikel der Cvncordienformel richtig."

Kaum ein halbes Jahr weilte Tholnck im Hause des alten Gelehrten, als die treuen, schon lange kranken Angen des Herrn von Diez sich für immer schlossen. In seinem Hause sah der junge Mann die bedeutendsten Gelehrten Berlins, wie Friedrich August Wolf und Alexander v. Humboldt. Zuweilen wor­unter den Tischgästen, die nach orientalischer Weise bedient wurden, auch der für Kunst und Wissenschaft begeisterte Kron­prinz, der spätere König Friedrich Wilhelm IV.

Bald trat Tholnck dem Manne nahe, den viele noch jetzt in tiefster Inbrunst ihres Herzens verehren. Der schlesische Baron von Kottwitz, der Gründer umfassender Anstalten für arme

Weber in Berlin und in Schlesien, der selbst am liebsten in bescheidener Verborgenheit wirkte, wurde das Werkzeug, um den Jüngling für den Heiland zu gewinnen.

Mit derselben Entschlossenheit, mit der Tholnck zn Herrn von Diez geeilt war, gab sich dann der junge Gelehrte rück­haltlos dem Dienste des Evangeliums hin. Früh schon sollte der Jüngling in die schwere Schule des Leidens eintreten, und in ihr ist er sein Leben lang geblieben. In dieser Schicke hat er es gelernt, seine natürliche Ungeduld und Heftigkeit zu zügeln. Ein Blntsturz warf den hoffnungsvollen Jüng­ling nieder und wiederholte sich; einmal so unerwartet, daß er mehrere Stunden bewußtlos in einem Graben vor der Stadt liegen blieb, bis mitleidige Leute ihn in seinem Blute schwimmend fanden und anfhoben. Auch in der schweren Krankheit, die das Leben des jungen Tholnck bedrohte, zeigte sich seine Energie oft auf geradezu komische Weise. Wenn ihm ein Heilverfahren angerathen wurde, konnte er dasselbe in blindem Gehorsam rücksichtslos befolgen. So ging er eine Zeit lang vom Morgen bis zum Abend spazieren, sogar ohne die Essenszeiten inne zn halten. Wider Erwarten der Aerzte erholte sich der znm Tode Er­krankte; man nannte ihn schon damals ein medicinisches Wunder.

Im Jahre 1826 ging Tholnck als Professor der Theologie nach Halle. Fünf Jahrzehnte hindurch hat er mit einer kurzen Unterbrechung hier eine Wirksamkeit gefunden, die schwerlich ihresgleichen hat. An Meisterwerken der Wissenschaft waren ihm andere Theologen unseres Jahrhunderts überlegen, einen größeren Einfluß auf Einzelne, eine mächtigere Einwirkung auf die ganze evangelische Kirche, hat kaum einer wie er geübt.

Wie mancher junger Student ist mit klopfendem Herzen in der Sprechstunde in Tholucks Studienzimmer eingetreten. Nach flüchtiger Einsicht in ein Blatt der Empfehlung oder das Anmeldebuch trat der berühmte Mann ganz nahe an den be­klommenen Studenten heran und schaute ihm forschend ins Auge, um ihn mit der Einladung zn einem Spazirgang in den nächsten Tagen zu entlassen. Oft aber überraschte er auch mit einem freundlichen Wort, das eine ungeahnte Kunde von den Verhältnissen in der Heimat des Studenten, im Elternhause, auf dem Gymnasium verrieth. Dem Schreiber dieser Zeilen reichte er bei dieser Gelegenheit znm ersten Mal die Hand mit den Worten:Ich weiß, Sie kommen eben vom Begräbniß Ihrer Mutter." Zu einem anderen sprach er:Ihr Vater War­schau in Berlin mein Zuhörer; werden Sie ihm ähnlich!"

Täglich drei Stunden, von 11 1, und nachmittags von 4 5 Uhr widmete der Professor seinen Studenten auf ge­meinsamen Spazirgängen. In Tholucks strenger Tagesordnung, die von früh 5 Uhr bis abends 10 Uhr jede Stunde und Minute mit eherner Ordnung umklammerte, waren dieselben regelmäßig eingegliedert. Sie waren ihm auch für seine Ge­sundheit unentbehrlich. Vor allem war ihn: aber der persön­liche Verkehr mit den Studenten Herzenssache. An diese Spazir- gänge knüpfen sich daher die meisten unvergeßlichen Erinnerungen. Jeder, der in Halle eine Zeit gelebt hat, kennt die sich immer verjüngende Gruppe von Spazirenden:Studente rechts, Stndente links, der Doktor in der Mitte." Bei schlechtem Wetter blieb man in einer eigenthümlichen bedeckten Wandelhalle in Tholucks Garten; bei den Studenten hieß sie dieRennbahn". Bei er­träglichem Wetter ging es durch die Straßen von Halle, durch Staub und Schmutz zum Thore hinaus. Wohin man ging, wußten die Begleiter oft kaum, sie waren ganz Auge und Ohr für den schwächlichen unscheinbaren Mann in der Mitte der Gruppe mit dem zwar runzeligen aber doch sonnigen Gesicht. Unbehilflich in Gang und Bewegungen war er zuweilen merk­würdig anzuschauen, wenn der Wind seinen alten Ueberrock nach einer Seite hinzog, oder wenn plötzlich eintretender Regen ihn nöthigte, mit Kraft aber doch ungeschickt den Schirm zu ent­falten. Auch von seinem Hut und seinem Stiefelpaar war nicht immer Rühmliches zn berichten. Aber auf dein schwachen Leibe dieses edle Haupt, dieses geistvolle Auge, diese Helle aller Wand­lungen fähige Stimme, dieser Strom von Wohlwollen, den das Antlitz ausznstrahlen vermochte, dieser zwischen Freundlichkeit und Humor wechselnde Zug um den Mund! Und wie folgte oft unmittelbar auf heiteres Lachen in seinem Gesicht der Aus-