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druck stillen Besinnens, der auf eine Einkehr der Seele zu deuten schien. Gerade nach solchen Augenblicken des Schweigens erging nicht selten ein freundliches oder ernstes Wort, das ein Samenkorn für die Zukunft bis in die Tiefe der Seele eines jungen Freundes senken sollte, an seine Begleiter. Einen ähnlichen Zweck hatten überwiegend die berühmten Tholuckfragen. Zunächst sollten sie allerdings wie der Stahl dem Stein in raschem Anprall Funken entlocken, und von der Geistesgegenwart und gesunden Frische des Jünglings Kunde bringen, oft aber waren sie nur die Hülle, um immer von neuem ein „Erkenne Dich selbst" in verschiedenem Tone laut werden zu lassen.
Einige dieser „blauen" Fragen sind allbekannt, wie z. B. die folgende: „Ich reiste nach Leipzig, aber mein Koffer wurde nach Dresden expedirt. Wie nennen Sie das, Zufall oder Schicksal?"
„Mein Vater," lautete die übermüthige aber willkommene Antwort des Studenten, „würde das einfach Bummelei nennen."
„Was würden Sie sagen," fragte Tholuck, auf ein Hans am Wege deutend, „wenn dieses Haus einfiele?" und konnte herzlich lachen, als die Antwort zurückkam: „Ich würde mich wundern, und ich muß mich wundern, daß ein „altes Haus" einen solchen Einfall haben kann." An einen von Berlin kommenden Studenten richtete Tholuck die Frage: „Was haben Sie zuletzt studirt?" Neben anderem wollte der Jüngling chinesische Geschichte getrieben haben. Welch ein Examen folgte nun in der Sonnenhitze auf der Merseburger Chaussee! Schweißtriefend schied der Aermste von Tholuck. Man wußte nicht, was mehr zu bewundern sei, die Gelehrsamkeit des Meisters, der ohne weiteres von Fo-Hi, Aao, Schu-king und den verschiedenen chinesischen Dynastien zu fragen wußte, oder sein Geschick, ohne herbe Wunde einem zweifellos begabten Jüngling eine heilsame Demüthignng zu bereiten. Ein wachsames Ohr hatte er für die bei ernstem Gespräch unvermerkt entschlüpfenden Seufzer eines irgendwie Bedrückten. Wie verstand er dann beim Abschied für den dritten unverständlich wenige Worte zu sagen, die wie Balsam wirkten.
Mit einem schweigsamen Studenten hatte Tholuck am Anfang eines Spazirganges vergeblich sich bemüht, ein Gespräch in Gang zu bringen. Er wird des Versuches endlich müde, und mehr als eine Stunde lang wandern beide, ohne ferner eine Silbe zu wechseln, nebeneinander her. An der Thüre seines Gartens entläßt Tholuck den stummen Begleiter mit dem Wort: „Danke für die geistreiche Unterhaltung!" Er wendet sich schon znm Gehen, aber die rasche schlagfertige Erwiderung: „Danke gleichfalls!" hält ihn zurück. Lächelnd reicht er dem Studenten die Hand, und diese Antwort wurde die Brücke zu einem innigen vertrauten Verkehr.
Wie zerstreut Tholuck war, ist bekannt. An einein Nachmittage im Winter hatte Tholuck einst allein in der bedeckten Wandelbahn frische Lust geschöpft. Aber zwischen vier und fünf Uhr war die Dunkelheit hereingebrochen und frischer Schnee bedeckte alle Wege des Gartens. Der in seltenem Grade kurzsichtige unbehilfliche Mann verliert die Richtung nach seinem Hanse hin. Plötzlich steht er vor einer Mauer, Gestrüpp hindert seinen Fuß; weder rückwärts noch vorwärts kann er sich bewegen. Endlich Hort im Innern des Hauses sein alter Diener den Hilferuf: „Karl, Karl, komm her!" Und an: Abend erzählt Tholuck in der heitersten Laune den zum Thee versammelten Studenten seine Irrfahrt im eigenen Garten.
Zum Professor N. N. znm Abend eingeladen, zieht Tholuck nach einem kurzen Wege über schmutzige Straßen die Klingel am Hause des Gastgebers. Die Magd trägt, als die Glocke ertönt, eben auf dem Flur des Hauses, in der einen Hand ein Licht, in der andern eine stattliche Baisertorte. Um die Thür zu öffnen, setzt sie die letztere rasch auf den Fußboden nieder. Mit dem Fuße tastend sucht der eintretende kurzsichtige Tholuck nach einem Instrument, um die Füße zu reinigen, meint einen sogenannten Fußkratzer gesunden zu haben und drückt erst den einen, dann den andern Fuß in die Weiche Baisertorte. Sprachlos sicht die Dienstmagd das Schreckliche geschehen. Ohne das Unglück, das er angerichtet hat, zn ahnen,
tritt Tholuck in das Gesellschaftszimmer ein. Erschrocken sieht die Hausfrau bei der Begrüßung, wie jeder Fußtritt des verehrten Gastes befremdliche Spuren auf dem glänzenden Fußboden zurückläßt. Entsetzt erkennt sie endlich die an den Stieseln hastenden kläglichen Trümmer des süßen Schaumgebirges, das die Tafel zieren sollte.
Eine kindliche Freude bereitete es Tholuck, an einem Abend nur solche Studenten, die den Namen irgend eines Thieres trugen, einzuladen. Man kann sich das Befremden der Gäste denken, wenn Tholuck feierlich anfing, die Anwesenden einander vorzustellen und zugleich die Plätze am Theetisch zu ordnen: „Herr Löwe, Herr Lamm, Herr Fuchs, Herr Gans, Herr Bär, Herr Ziege!" Ein andermal mußten die Gäste als eine Zusammenstellung der verschiedenen Farben sich gruppiren lassen. Herr Studiosus Grün saß neben Herrn Blau; es folgten Herr Schwarz, Herr Weiß, Herr Mohr, Herr Braune, Herr Weißpflock, Herr Abendroth.
Von Tholncks hingebender Treue in der Seelsorge hat mancher Student beschämende Erfahrungen gemacht. Bei seinem Jubiläum erzählte er, wie er einem jungen Studenten, den ihm eine fromme Mutter ans Herz gelegt, unermüdlich nachgegangen sei. Schon um sechs llhr morgens besuchte er den verwilderten Jüngling, weil er zu keiner andern Zeit zu treffen war. Auf gute Vorsätze folgte immer neuer Fall. Nach einer anscheinend wirksamen Unterredung erhielt Tholuck am späten Abend einen Zettel nur mit dem Inhalt: „Tholuck seufzt, Tholuck betet; aber es wird fortgesoffen!" Für Tholncks Eifer diente solch frevelhafter Hohn nur von neuem zum Anspornen. Er durfte es erleben, daß auch für diesen die Stunde der Einkehr und Umkehr kam.
Als ein Student als Amanuensis in sein Hans eintrat, empfing er ihn mit dem unvergeßlichen Wort, das zugleich seine Treue in der Freundschaft erklärt: „Lassen Sie uns von Anfang an als Freunde unfern Verkehr mit einander auf den rechten Grund stellen! Lassen Sie uns stets eingedenk sein, wir werden einander gegenseitig viel zn vergeben haben. Aber wir sollen und wollen einander vergeben, weil uns viel mehr von einem andern vergeben worden ist."
Ein amerikanischer Theologe schließt eine Erinnerung an Tholuck mit dem Wort: „Tholuck war mehr als Lehrer für seine Studenten. Er liebte sie."
Von dieser Liebe gab die unbegreifliche Schärfe seines Gedächtnisses immer von neuem überraschendes Zeugniß.
„Wissen Sie noch, wie ich Ihnen vor dreißig Jahren die Nachricht vom Tode Ihrer Mutter zn bringen hatte? Denken Sie noch an unser Gespräch ans dem Wege an den Pulver- Weiden, dessen Folge der Wechsel Ihres Berufes war?" Solche Fragen wecken bei Unzähligen verwandte Erinnerungen. Ein Geistlicher besuchte Tholuck im Herbst des Jahres 1873. Einundzwanzig Jahre waren vergangen, seit er den verehrten Lehrer gesehen, und neunzehn Jahre, feit er zuletzt an ihn geschrieben hatte. Auf die Anrede: „Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern?" erwiderte Tholuck:
„Doch, ich erinnere mich Ihrer im Besonderen. Sie standen zuerst in der Diasporagemeinde in N. Jetzt also stehen Sie als Gefängnißprediger in U. Da werden Sie viele traurige Erfahrungen zn machen haben?"
„Ach, Herr Professor," lautete die Antwort, „aber doch auch manche erfreuliche."
Da leuchtete Tholncks Angesicht vor Freude. „Was freue ich mich, einmal solche Antwort zu hören!" rief er, und erst jetzt merkte der Gast, daß er eine Frage zur Prüfung der Geister, die auch noch an Pastoren gerichtet wurde, beantwortet hatte. Beim Abschied sprach Tholuck:
„Wir scheiden in einer Zeit von einander, in der für mich bald der letzte Abschied kommen wird; wie freue ich mich darauf — wie unbeschreiblich freue ich mich darauf!" und sein altes durchfurchtes Antlitz strahlte wie in himmlischem Verklärungsglanz.
Der Geistliche antwortete: „Ja, dann geht es ja nach Hause." Wieder erglänzte es in seinem fast erloschenen Auge; noch ein Händedruck -— es war ein Abschied für immer.