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pädagogische Mriefe.
Von O. W. Herbst.
Nachdruck verboten. Gcs. v. 11 .- VI. 10.
II. Hauslehrerbildung.
Wo sind die Zeiten hin, da der „Hofmeister" oder „Informator" noch eine stehende Fignr auf unseren Edelhöfen, ja in unseren städtischen Patrizierhäusern war, da der Heranwachsende Junker von seinem Mentor in die Hörsäle der Hochschule und dann auf die unvermeidliche Bildungsreise nach Frankreich und Holland — vor allem nach Paris, dem großen Schleifstein für deutsche Bären — auch wohl nach England oder Italien geleitet wurde? da der junge Theologe kaum einen anderen Durchgang zum Amte kannte als jahrelanges Hauslehrerthum mit der Fernsicht auf eine Patronatsstelle, in deren Hafen der nicht mehr junge Mann einlief. Blättern wir in Biographien aus dem vorigen und noch aus nnserm Jahrhundert, überall begegnen wir Männern, die in ihrer Jugend Hauslehrer entweder waren oder hatten. Zu jenen gehört eine glänzende Reihe berühmter Namen, die Klopstock, Geliert, Boß, Schnbart, Seume, A. W. Schlegel, Hölderlin, Schleiermacher, Karl Ritter, Fr. Christoph Schlosser, Hegel; andere waren Prinzenerzieher wie Wieland und Herder. Auch unsere Dichtung hat in R. Lenz' „Hofmeister", dem ungeheuerlichen Stück, das sich eine „Komödie" nennt, den Stand, der so viele Dichter zählte, in ihre Kreise gezogen. Und heute? Fast scheint die Spezies im Aussterben, und nur noch wie ein Stück kulturgeschichtliches Alterthum fortzndauern. Jedenfalls — was einst die Regel war, ist jetzt die Ausnahme. Wenn damals kaum ein Edelmann so klein war, um nicht für seine Söhne einen Hofmeister zu begehren, heute schicken regierende Fürstenhäuser, wie das preußische, badische, mecklenburgische, meiningische, ihre Prinzen auf öffentliche Schulen und nicht einmal auf Ritterakademien. Ist es ein demokratischer Zug, der in der Zeitlust liegt? Will man in der elastischen Jugendzeit schon die Standesschroffheiten ansgleichen oder mildern? Ist es die wachsende Ueberzeugung, daß das öffentliche Leben, wie es die Gegenwart geschaffen hat und weiter entwickeln will, als Vorschule und Vorstufe auch im öffentlichen Schulleben eines Schnlstaates bedarf?
Keineswegs ist die Erscheinung blos aus dem Mangel persönlicher Kräfte zu erklären, so sehr, dieser Mangel vorliegt, so wenig Kirche und Schule jetzt einen Ueberschuß davon abgeben können. Der Grund sitzt tiefer und ist von allgemeinerer Natur. Die ständischen Schranken sind gefallen, die Privat- bitdnng ist im Wettstreit mit der öffentlichen erlegen und fristet ihr Dasein nur noch in Nothlagen, die zu Nothbehelfen greifen lassen. Nur in der Ferne, wohin sich die letzten Ausläufer deutscher Kultur verlieren, auf den Edelsitzen von Kurland und Esthland oder in den Adelsschlössern Ungarns gilt die Haus- lehrerbildnng noch als die Regel. Da also, wo die Entfernung von Gymnasialorten weiter und die Standesabschließung noch schroffer ist. Ich selbst habe vor einem Vierteljahrhundert einen deutsch-ungarischen Hauslehrer in ergrauendem Haar gekannt, der fast ein Menschenalter auf demselben Edelsitz erzogen und gelehrt hatte, um zum Dank am Lebensabend mit einem kleinen Pachtgut belehnt zu werden. Aehnliche Beispiele vom Verzehren der Kräfte im Dienste eines Hauses sind heute aus dem deutschen Leben wohl verschwunden. Die Romantik liegt uns fern, darüber trauern zu wollen, es gilt vielmehr, den Wechsel und seine Gründe zu verstehen.
Es ist wahr, die Hauslehrerjahre spielen in manchem bedeutenden Leben eine bedeutende Rolle. Manchmal sind sie die innere Krisis geworden, wo nach dem Sturm und Drang, nach der Heimatlosigkeit der akademischen Jahre die Brücke zu wieder- kehrendem Familiensinn, zur Eingliederung in das bürgerliche Leben, zu den Anfängen eines amtlichen Wirkens geschlagen wurden, wo stille Einkehr und Selbstbesinnung nach Jahren des Irrens und Suchens eine Stätte fanden. Des empfangenen Segens war oft ungleich mehr als des mitgebrachten. Mancher mag mit mir dankbar des Augenblicks gedenken, wo er, ein unerfah-
XIV. Jahrgang. SS. N*
rener Jüngling, klopfenden Herzens vor den Pforten des Hans- lehrerlebens gestanden. Da lag der Landsitz im Abendsonnenglanz. Landleben — ein schöner Jugendtraum, und nun frohe Wirklichkeit! Da rauscht der Bach, da grünt der Wald, und jedes Fenster öffnet sich in alle die Herrlichkeit. Und alle schlafende Poesie will sich regen und drängt in dem Wanderer zunächst die Gedanken an Pflicht und Arbeit und Verantwortung und alle Prosa seiner nächsten Zukunft zurück. Aber unbewußt spricht in dieser ahnungsvollen bangen Stimmung doch das kommende Leben auch durch seinen Ernst mit.
Der Fremdling tritt über die Schwelle des Hauses; vor ihm stehen Eltern und Kinder, denen er kein Fremdling bleiben soll. Die ersten Glieder der Kette, die ihn ans lange fesseln und leiten soll, sind rasch geschlungen. Wird es, wie es soll, ein wirklicher Bund werden, oder bleibt es ein äußeres Nebeneinander?
Nun öffnet sich bald eine reiche Schule des Lebens. Denn es ist etwas ganz anderes, Lehrer zu sein auf der Basis der Familiengemeinschaft, zugleich als Hausfreund, Vertrauensmann, Erzieher. Hier weicht der Nimbus eines sernerstehenden Lehrers, die kleinsten Eigenheiten und die verborgensten Schwächen treten vor das Auge von Eltern und Schülern und streiten gegen die Autorität, die doch das A und O eines kräftigen Wirkens bleibt. Es ist nach allen Seiten eine hohe Schule des Taktes. Wenn irgendwo, so muß hier Liebe und Vertrauen zurückerobern, was etwa die Gebrechen des Alltagsmenschen preisgegeben haben.
Und der Lehrberuf selbst — wie kann er dem Aufrichtigen, dem Gott es ja überall gelingen läßt, nach seiner allgemeinen wie nach der individuellsten Seite lebendig werden. Hier, wo er auch dem Anfänger noch übersehbar ist, wo ihm der Zögling nach Leib und Seele als ein Ganzes und nur als sein Zögling, dessen Pflege er allein mit dem Hanse zu theilen hat, gegenüber tritt, gewiß ist das eine Schule, ungleich fruchtbarer, als wenn der junge Theologe blos einige Wochen in das Getriebe eines Seminars hineinblickt oder der Philologe mit wenig Wochenstunden sein Probejahr abmacht. Hier kann die erste Liebe zum Beruf, Menschen zu bilden, durch Liebe und Wissenschaft Wurzel schlagen; hier kann ein Verständnis; des Familienlebens, dieser Elementarform alles Lebens, angebahnt werden, und vielleicht mehr als das, Haus und Hauslehrer können sich in dem innersten Grunde alles Lebens finden und verstehen lernen. Und wie unvergeßlich ist diese Zeit des Sammelns auch für die Vertiefung der eigenen Studien! Hier wird Heerschau gehalten über den mitgebrachtcn Besitz, Lücken gefüllt, der Erwerb erweitert und manchmal regt hier zuerst die Produktion schüchtern ihre ersten Schwingen. Der Sommer führt auf dem Lande nach außen. Aber bald heißt es, „der Sommer ist hin", und wo das Draußen ärmer wird, muß das Drinnen um so reicher werden. Die Wintereinsamkeit auf dem Lande, wie fremd blickt sie den Städter an, wie kalt den jungen Erzieher, der kaum erst die frohe Genossenschaft der Kommilitonen verlassen hat! Aber jetzt gerade beginnt die rechte Arbeit, der Unterricht gedeiht sichtbarer, und das knisternde Ofenfeuer und die späte Lampe schauen auf ein reges Leben des lehrenden und des lernenden Hauslehrers.
Ja, es können goldene Jahre sein, die ihren Schein noch in die späte Lebenszeit werfen. Die große Welt ist fern und schweigt, nur von weitem schlägt die leisere Welle der großen Zeitbewegungen an das stille Ufer. Ich selbst habe das Jahr 1848 als Hauslehrer im einsamen Landleben verbracht. Manchmal fühlte ich mich in diesen drangvollen Tagen wie der Vogel im Käsig, der sehnsüchtig nach den freien Kameraden in der Luft ausschaut, um mit zu singen und mit zu fliegen. Waren die Lehrstunden zu Ende, wie wurde mit Fieberhaft nach der entfernten Post geeilt, um die Stimmen „aus der Welt", Briefe und Zeitungen zu hole». Und wie sauer wurde es dem jugendlichen Eifer, das alles nur zu lesen. Aber wie beruhigend