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wirkte wieder in allem Sturm die stille Natur und die feste Pflicht. Noch liegt ein Exemplar des Demosthenes vor mir, worin die großen Gedanken des Redners, die mir erst allerjüngste Erfahrung ausschloß, als ebenso viele Mementos roth angestrichen sind.
Doch ich will hier keine Hanslehrererinnernngen niederschreiben; wo fände sich da ein Ende? Nicht um vieles möchte ich dieses Blatt aus dem Buche meines Lebens Herausreißen. Und andern wird es ebenso gehen. Aber bisher habe ich doch nur von dem Interesse des Lehrers gesprochen, von den inneren Förderungen, die er aus dieser Bahn erfahren kann. Wie steht es bei der Privaterziehung mit der Förderung des Schülers?
Diese beiden Interessen müssen sich nicht nothwendig decken. Nehmeil wir den besten Fall au. Der gewonnene Hauslehrer ist eine glückliche Wahl; er hat Liebe zur Jugend, Verständniß für ihr Wesen und Bedürfen, Kenntnisse und Gesinnung, er ist kein Lohnarbeiter, kein gelehrter Pedant und ahnt, daß der beste Ertrag alles Lebens in dem Wirken für andere besteht. Nun, fruchtlos kann dann auch das Hauslehrerwirken nicht bleiben. Wie selten aber trifft, zumal heute bei ungleich beschränkterer Auswahl, unsere Voraussetzung zu! Allein selbst in diesem günstigsten Fall wird dieses Wirken empfindliche Lücken lind Mängel behalten, denen, weil sie in den Verhältnissen liegen, die Personen ohnmächtig gegenüber stehen. Der junge Lehrer ist ein werdender und er steht allein. Es fehlt also an selbstgemachter Erfahrung und all der Sicherheit, die von ihr ansgeht; es fehlt an dem Zurechthelfen durch gereifte Kollegen, wohlwollende Obere in Fragen des Fachs, wo die Eltern selbst rathlos dastehen. Mitgebrachte pädagogische Theorien und philosophisches Wissen, auch die eignen Schnlerinnernngen lassen imStich auch vor der einfachsten Frage der Praxis. Und dieser Eine, Werdende und Unfertige soll nun alles lehren können! Das gelingt nur ans der untersten Lernstufe. Aber schwerer wiegt das Bedenken, daß dem unerfahrenen Lehrer bald jeder Maßstab fehlen wird, womit er die Gaben wie die Fortschritte seines Schülers, seiner Schüler messen kann. Dieser Maßstab läßt sich nur durch Vergleichung gewinnen, und zwar nicht durch Vergleichung unter Geschwistern, die viel zu nahe und familien- ähnlich nebeneinander stehen und bei denen das Familienvor- nrtheil, oft die blinde Liebe, verwirrend dreinreden, sondern durch die Parallele mit andern Knaben.
Der Hauslehrer bleibt immerhin vom Hause abhängig und wird im Urtheilen und Handeln selten frei und selbständig genug sein. Und dem Zögling fehlt meist der gesunde Ehrgeiz, der Wettstreit, wo er sich scheut, von andern überholt zu werden, und sich doch bescheidet und die rechte Selbstschätzung lernt, wenn dies trotz alles Eifers geschieht. „Unter Brüdern", wir wissen es, verstummen diese Motive. Vor allen doch: das Moment der Zucht und Ordnung, das dem männlichen Leben früh so noth thut, weil es später und immer sein Element bleiben soll, kommt in einer langen fortgesetzten Privatbildung nicht zur Geltung. Die Macht des Gesetzes, der Segen einer streng geregelten Gemeinschaft geht verloren. Die Willkür, die Entnervung, die Selbstsucht werden unvermerkt großgezogen, und der Verwöhnung müssen schmerzliche Entwöhnungen folgen, wenn die rechte mannhafte Lebenstüchtigkeit sich entwickeln soll. Mögen Hans und Hauslehrer in diesem Punkte den besten Willen haben, reden Tanten und Großmütter darein, kommt Besuch, ist sonst ein triftiger oder untristiger Abhaltungsgrnnd, die Lehrstunden werden wie leicht unterbrochen, und Vergnügen geht vor Pflicht. Findet ein junger ungereifter Mann da immer die inneren Mittel zum Widerspruch, zum Widerstand? Der Himmel so blau und die Fluren so grün, und der Wagen steht angespannt, und soll allein die liebe Jugend hinter Nepos und Planimetrie sauer sehen? Es steht eben der eine Faktor, die Schule, dem andern nicht ebenbürtig, sondern untergeordnet gegenüber. Aber auch hier soll frühe die „Gemächlichkeit" anf- hören, denn wie der Tropfen den Stein höhlt, erweicht sich allmählich, was hart und fest bleiben soll. Ganz anders ist hier das Bedürfniß der weiblichen Bildung. Hier ist es erlaubt, ja natürlich, daß das Gesetz nicht zu scharf hervortritt,
und es schadet weniger, wenn das Haus der Schule den Rang abläuft.
Man könnte einwenden: diese losere Erziehungsart fördert einen freieren Individualismus, und es ist deutsch, der persönlichen Freiheit schon früh einen Spielraum zu lassen. Man kann Hinweisen auf Beispiele der Vergangenheit, wo diese Freilassung große Früchte getragen. Die ersten Genien, deren sich das Vaterland ans zwei verschiedenen Lebensgebieten im Beginn dieses Jahrhunderts rühmt, Goethe und der Freiherr vom Stein, der bürgerliche Dichter, der adeliche Staatsmann, sind aus privater Bildung hervorgegangen. Aber für Geister ersten Ranges haben Erziehungssormen überhaupt nicht die Bedeutung wie für das Mittelmaß, dem man zunächst Gesetze und Ordnungen anpaßt, sie finden mit wegeweisendem Instinkt, wenn auch oft durch Um- und Abwege, das Ziel. Auf Um- und Abwegen doch auch sie oft! Auch in Steins Fenerseele würde durch ein jugendliches Gemeinschaftsleben ans öffentlicher Schule vielleicht manche „nichtberechtigte Eigentümlichkeit", die Ueberschroffheit, der Jähzorn gemildert worden sein, ohne das Feuer zu löschen. Und wenn man Goethes Jugend pädagogisch überschaut, so vermissen wir doch das stählende, eigentlich erziehende Moment; der ganze Bildungsgang hat doch zu viel vom verlockenden Irrgarten, aus dem nur die Gottesgabe seiner wunderbaren Dichter- und Menschennatur herausführte. Der Student in Leipzig hatte zu büßen, was dem Knaben in Frankfurt vorenthalten worden war. Und seiner Jugend fehlte dabei, was den jungen Stein schon an der Wiege umstand, eine feste, christliche, erbliche Familienzncht, die am tiefsten wirkende aller Lebensordnungen.
Alles führt darauf, in der freien Konkurrenz der beiden Faktoren, des Hauses und der Schule das Heil zu sehen. Beide sollen sich nicht in absoluter, sondern in relativer Freiheit fühlen, zu ihrem eigenen und der Jugend Besten.
Jeder erfahrene Schulmann kennt die dem Knaben im- ponirende Macht des Klassengeistes, des Schulstaates, worin eine gesunde Knabennatur dem Willen wie dem Geiste nach zugleich empfangend und gebend ist. Hier fühlt sie sich gehoben und getragen, gespornt und gezügelt, gedemüthigt und belohnt. Es ist das Element männlicher Entwickelung.
Hier fällt auch ein weiterer Hauptmangel alles privaten Unterrichts weg, der nämlich, daß bei einem oder wenigen Schülern der einzelne viel zu sehr aktiv in Anspruch genommen wird. Immer ans dem Sprunge sein zu müssen znm Aussagen, Uebersetzen, Redestehen, das verträgt nicht leicht ein Knabe ohne innere Schädigung. Der Ueberanspannung folgt naturgemäß die Abstumpfung. Wer kann immer produktiv sein? Der öffentliche Unterricht erwartet und verlangt zwar auch stetige Theil- nahme und Aufmerken, aber es ist doch ein anderes, ob man diese Forderung auf einen oder zwei konzentrirt, oder sie auf eine ganze Klasse vertheilt. Allerdings hilft sich in der Privatbildung die Natur wieder dadurch, daß in der ganzen Arbeitsordnung die Zügel minder straff ungezogen werden. Das bringt aber eben die Mißstände, von denen wir oben sprachen. Freilich hört man von treuen Müttern zumal oft das Bedenken: die Reinheit des Herzens und der Sitten bleibe sicherer bewahrt, wenn die häusliche Erziehung und Bildung möglichst lange fortdaure. Die Erfahrung aber spricht, wenn sich auch hier nichts statistisch Zuverlässiges aufstellen läßt, nicht für diesen Grund. Der Dichter sagt, der Mann müsse hinaus „ins feindliche Leben", aber schon von dem Knabenalter gilt es, — wenn nur die schützende Hand und der Segen des Familienlebens als der gute Engel ihm irgendwie zur Seite bleibt, — in der Gemeinschaft allein wird die Versuchung überwunden, erstarken Einsicht und Wille, wächst neben dem Unkraut die gute Frucht, und so wird die kritische Gabe gewonnen, die nicht blos das Böse und Gute, sondern — was schwieriger ist — den Bösen und den Guten zu unterscheiden lernt.
Wir dürfen abschließen. Wenn wir in unserem ersten Briefe mit Fug das unveräußerliche Recht der Familie in der Lebensfrage der Erziehung und Bildung betont haben, so betonen wir heute das gute Recht der Schule, der vollen und