Heft 
(1878) 32
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ganzen Schule, gegenüber der Familie. Beide Faktoren müssen sich eben als unzertrennbare Hälften suchen und vertragen, in ihrem Ausgleich liegt der Schutz vor Einseitigkeit, vor der Willkür hier, vor kalter Gesetzlichkeit dort.

Gewiß sind Familien, die wie der Landadel, die Land­pfarrer, Förster und Schullehrer, fernab von geeigneten Schul­orten leben, dieser Frage gegenüber in übler Lage. Oft wer­den ihre Kinder zeitweilig einen von zwei Nachtheilen tragen müssen. Jedenfalls aber ist es auch in dieser Nothlage reich­lich, sie den Nachtheil mangelhafter Schulbildung, den schwer auszugleichenden, nicht zu lange tragen zu lassen. Die mög­lichste Abkürzung jener unvollkommensten Bildungsform, die Beschränkung auf das zarte Alter, dem noch wesentlich die Elementarbildung genügt und die häusliche Pflege unentbehr­lich ist, wird auch dann zu erstreben sein. Will man den Zweck, so muß man die Mittel wollen. Es wäre zu wünschen, daß für die Bedürfnisse gebildeter Landbewohner häufiger und geregelter als bisher kleine Schulen, die ihre Zöglinge bis zu den Mittelklassen der Gymnasien oder Realschulen führen, von berufenen Landgeistlichen gegründet würden. Freilich müßte neben der Liebe und dem Geschick zur Sache ein Ueberschnß von Zeit und Kraft zu Gebote stehen, und auch dann noch eine Hilfskraft herangezogen werden, um sonst unvermeidliche Unregel­mäßigkeiten zu verhüten. Aber auch diese Auskunft gilt nur bis zu

der bezeichnten Stufe; denn es wäre doch nur annähernd eine Schule.

Die ganze Frage aber hat in ihren Konsequenzen ein tief­ergreifendes Interesse, sie ist eine Kulturfrage. Der deutsche Individualismus und Subjektivismus alten Schlags hat seine Zeit gehabt. Wir danken ihm schöne und unverwelkliche Gcistes- blüten, goldne Früchte. Nun aber sind wir nach schweren Er­fahrungen und unter heftigen Zuckungen in eine Periode eiu- getreten, wo ohne festen Staatssinn die Aufgaben der Nation nicht zu erfüllen sind. Zur Heranbildung dieses Sinnes sind die Jugendgemeinschaften des öffentlichen Unterrichts ein Glied in der Kette von Mitteln. Daß dabei das Gleichgewicht mit dem, was von persönlicher Eigenart und von freier Idealität ewig berechtigt ist, nicht verloren gehe, ist, wie unser erster Brief darznlegen suchte, die ernste und pflichtmäßige Aufgabe des Familienlebens, in welche die rechte Schule mit ihren inneren Kräften nicht störend, sondern fördernd eingreifen wird. Von dem Hause allein nur unterstützt durch die Schule kann auch die religiös-christliche Gesinnung der Jugend wirksam ge­pflegt werden, denn das Haus zunächst vermittelt in erster Linie dem Kinde, dem Knaben den Zugang zur Kirche. Hier aber liegt die stärkste Bürgschaft für das ewige Recht der Persönlichkeit, und der Schutz gegen die mechanischen Kräfte starrer Gesetzlichkeit und äußerlicher Abrichtung.

Zur Geschichte der Schuhe.

Ein richtiger kulturgeschichtlicher Aufsatz im Modcgeschmack der Zeit muß mit demsprachlosen Urmenschen" beginnen, dessen Ueber- reste in den Diluvialablagcrungen, in Höhlen, Küchenabfällen und Pfahl­bauten zu angenehm-ungewissem Studium verlocken. Wenn man also die Frage nach dem Ursprünge der Schuhe und Stiefel zu erörtern hat, so ist dieselbe folgendermaßen zu stellen:Besaß der sprach­lose Urmensch bereits Stiesel?" Sind nun in den Höhlen, Pfahl­bauten und Schuttablagernngcn keine petrifizirten Stiefelsohlen gefun­den, dagegen Abdrücke nackter Füße wie die Straßenjungen sie bei uns im Schlamme znrücklassen entdeckt worden, so darf man mit wissenschaftlicher Sicherheit schließen: Der sprachlose Urmensch ging barfuß, wozu als unterstützendes Argument die Stiefel- und Strnmpflosigkeit deranthropoiden" Assen noch hinznzufügen ist.

Nachdem diese wichtige Vorfrage zur Genüge gelöst, schreitet der Knltnrhistoriker weiter fort. Er zieht zum Vergleiche alle wilden und zahmen Völker des Erdballs heran und macht die glänzende Entdeckung, daß die sogenannten Naturvölker meist barfuß gehen, daß aber, mit dem Fortschreiten aus dein Natur- in den Knlturzustand, wie die Be­kleidung des übrigen Körpers auch diejenige der Füße in der einfach­sten Weise beginnt. Nachdem dies in einem weitläufigen Kapitel aus­einandergesetzt ist, schließt der Abschnitt folgendermaßen:Wie also das einfache Feigenblatt das erste Kleidungsstück war, so die Sandale der Beginn der Fußbekleidung, gleichsam der Urahn unsres modernen Stiefels."

Eine weitere Frage ist diejenige nach der Beschaffenheit der alt­griechischen und altrömischen Fußbekleidung, und hier nun findet der Knltnrhistoriker glänzende Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit den alten Klassikern zu doknmentiren. Das griechische Sandalion, so etwa würde er sprechen, hatte einen über den Zehen liegenden Riemen (Zy- gos), der sich allmählich zu einer Art Oberleder erweiterte. Die Sohlen waren ans Leder oder Kork daher unsre moderne Einrichtung der wasserdichten Korksohlen doch nur dem hellenischen Kulturkreise entlehnt. Die Krepis scheint eine Art Halbschnh gewesen zu sein, der vorn den Fuß bedeckte, hinten mit Riemen befestigt wurde das Vorbild unsres Schlapppantoffels, der somit auch keineswegs Original ist. Nur die Einbades der Männer waren wirkliche Schuhe, die Endromides Stiefel. Was nun die Römer anbelangt, so trugen sie im Hause Sandalen, »olons, woher unser Wort Sohle; der eigentliche Schuh hieß oniesns, er schloß den Fuß ganz ein und hatte einen Riemen, während bei Senatoren der rothe Schuh vier Riemen besaß und höher hinauf­reichte. Dabei ist Horaz Satiren 1, 6, 27 zu citiren. Ans dem Schuh der Patrizier war ein Halbmond (Lunula) ans Elfenbein angebracht. Das war eine aristokratische Fußbekleidung, der gemeine Mann mußte sich mit dem Peco begnügen.Unsere fortgeschrittene Zeit, dedncirt unser Knltnrhistoriker, kennt solche Unterschiede in Bezug auf das Schnh- werk nicht mehr; hier liegt klar und deutlich ein Beispiel vor, wie demokratisch der durch sie hindurchgehende Zug ist und wie vor ihrem Nivellirungsbestreben nicht einmal mehr das Schuhwerk sicher ist. Welchem Herrscher, und wäre es der mächtigste Kaiser, kann es heute Anfällen, eine besondere Art Stiefel vor seinen Unterthanen vorans- zuhaben?"

Bei der Ausarbeitung dieses Kapitels ergeben sich von selbst ge­legentliche Excnrse in wissenschaftliche Nachbargebiete. So z. B. läßt sich die Gerberei, welche doch nothwendig ist, um das Leder darzu­stellen, in einem famosen Nebenkapitel behandeln, wobei denn aber­

mals abgeschweift wird durch Beantwortung der Frage:Ob denn ein Lohgerber wirklich länger zum Verwesen braucht, als ein anderer Mensch?" (Vergleiche den Todtengräber im Hamlet von Shakespeare.) Auch die Schneeschuhe der Lappländer und nordamerikanischen Indianer, nicht minder die mit Holzquerleisten besetzten Schuhe der Japanesinnen, ferner die kleinen Füße der Chinesinnen, geben Stoff zu besonderen Ab­schnitten. So füllt der Kulturhistoriker Bogen ans Bogen seines Werkes.Wurde mit Schuhen in der frühesten geschichtlichen Zeit auch Handel getrieben?" Da tauchen dann entschieden die Phönizier auf, die überall dort Anspringen müssen, wo man sich sonst nicht zu helfen weiß, und es wird gezeigt, daß eine Kolonie derselben in Pirmasenz sitzen blieb und dort die berühmte Pantoffelfabrikation begründete, die ihre Produkte in die weite Welt, janoch über die türkische Grenz," schickt.

Eine andere phönizische Schusterkolonie aber ließ sich in Pegau bei Leipzig nieder und begründete das berühmteSchnster-Psche", dessen duftige Produkte auf der Leipziger Messe durch ihre Zierlichkeit allgemeine Bewunderung erregen.

Damit wäre der Knlturforscher in der vom grellsten Lichte der Geschichte beschienenen Zeit angelangt, und er darf sich, nachdem er noch von Hans Sachs und den auf Schuhe und Schuster bezüglichen Sprich­wörtern (Schuster bleib bei deinem Leisten) geredet, nun ungestört der Betrachtung der Schuhe hingeben, welche in unseren historischen Museen aufgestapelt sind.

Da ist es nun die Tyrannin Mode, welche in nicht zu leugnender Weise den Fuß des Menschen gerade in Mitleidenschaft zieht wie den Kopf. Wie präsentiren sich nicht die Hüte unsrer Frauen, wie wechselt nicht der Hut des Mannes vom Schlapphut des dreißigjährigen Krieges durch die Dreimaster bis zürn lächerlichen Cylinder der Gegenwart! Wie schon oben der Kulturhistoriker andeutete, ist jetzt allerdings Schuh und Stiefel einer demokratischen Einförmigkeit verfallen das war aber früher anders, wie die mitgetheilten Abbildungen lehren. Da sehen wir (Nr. 1 , 2, 3) die Schnabelschuhe des 15. Jahrhunderts und wie heute unsere Damen etwas darin suchen, recht lange Schleppen hinter sich herfegen zu lassen, so konnte damals die Spitze des Schuhs nicht lang genug sein. lieber eine gewisse Länge hinaus durfte aber die Spitze des bürgerlichen Schuhs sich nicht erstrecken, während Adlige und fürstliche Personen bis zwei Fuß lange Spitzen trugen.

Das wurde natürlich unbequem und man begann die Spitze nach aufwärts zu rollen (Nr. 2). Je länger die Schuhspitze, desto vor­nehmer der Mann.Die merkwürdige Uebereinstimmung im Geiste aller Völker und Zeiten läßt sich so steht bei unfern: Kultnrhisto- riker zu lesen hier an einem Analogon recht auffällig darthun, es ist ein Beitrag zur vergleichenden Völkerpsychologie, wie er schöner nicht gedacht werden kann. Als nämlich Friedrich der Große fand, daß die langen Rockschöße seinen Soldaten beim Exerziren hinderlich wurden, da ließ er die Zipfel rechts und links Umschlägen und an einem Knopfe befestigen; so wurden die Beine frei. Später fand er, daß das Tuch der Zipfel gespart werden könne, er ließ sie abschnei- den und der Frack entstand. Wem entginge hier die wunderbare Pa­rallele zwischen dem aufgekrümmtcn Schuhschnabel und den zurückge­schlagenen Rockschößen? So wiederholt sich alles in der Welt!"

Wie aber die Mode es liebt, von einem Extrem ins andere über- znspringen, so sieht man hier noch am Ende des 15. Jahrhunderts