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ihre Loge gefahren hätte, wollten wir dann den kühnen Schritt unternehmein
Mir selbst fiel die Aufgabe zu, mich von dem Besuch des Theaters, in dem heute ein neues Stück gegeben wurde, frei zu machen. Die Mama hatte sich mit einer unserer befreundeten Familien verabredet und wurde erwartet; hierauf baute ich meine Hoffnung, und gedachte den letzten Moment vor der Abfahrt zu benutzen, um, ein Unwohlsein vorschützend, zurückzubleiben. — Alles ging besser wie ich geglaubt hatte. Die Mama trat, als sie bereits auf mich gewartet hatte, in meine Stube und fand mich vollständig für das Theater angekleidet auf der Chaiselongue lehnen; ich erklärte ihr, daß ich heftige Kopfschmerzen und auch etwas Halsweh hätte. Nach wenigen Minuten des Deliberirens hatte ich meinen Zweck erreicht; der Wagen rollte die Straße hinauf, ich war allein.
Eilig entledigte ich mich nun meiner Toilette und legte die mir von Carlo bereits überbrachten Kleider an. Als ich meinen Anzug beendet hatte und mich in dem großen Spiegel beschaute, erkannte ich mich selbst kaum wieder.
Ich wartete, zum Fenster hinansgebeugt, auf den heimkehrenden Wagen. Zwei Offiziere gingen am Hause vorüber; sie waren im lebhaften Gespräch. Ich horchte hinunter und hörte das Capitano Namen nennen. Gleich darauf glaubte ich einige weitere Worte zu verstehen: „Mit seinen sämmtlichen Kameraden im Cafö di Roma" hatten sie gesagt.
Jetzt kam eine Equipage um die Straßenecke und bog dann langsam in die Thorsahrt neben unserm Hause ein. Carlo war zu Hanse. Nach kurzer Zeit erkannteich seinen Schritt auf dem Korridor; ich nahm einen großen Carton zur Hand, schloß eilig mein Zimmer ab und ging schweigend neben dem Alten die Treppe hinab.
Wir schlugen geradenwegs die Richtung nach des Capitano Wohnung ein; ich schaute hinauf — es war kein Licht zu erblicken. „Ich muß hinaufgehen, Fräulein, aber was wird aus Ihnen? Ich kann Sie unmöglich hier znrücklassen. Treten Sie gleichfalls in das Hans und halten Sie sich immer einige Stufen hinter mir. Der Signor Capitano wohnt zwei Treppen hoch; während ich an seiner Thür nach ihm frage, können Sie so weit Zurückbleiben, das niemand Sie bemerkt."
Ich hätte vielleicht am besten gethan, auf diesen Vorschlag einzugehen; aber eine unbezwingliche Scheu hielt mich davon zurück, in das Haus einzutreten, den Capitano gewissermaßen selbst in seiner Wohnung aufzusuchen. Ich weigerte mich also entschieden und bestand darauf, den Alten hier unten zu erwarten. Ich glaubte mich, ohne irgendwelchen Belästigungen ausgesetzt zu sein, hier fünf Minuten aufhalten zu dürfen.
„Sage dem Officiale, daß ich ihn für wenig Augenblicke zu sprechen wünsche, da ich nicht, ohne ihn nochmals zu sehen, von ihm scheiden möge," schärfte ich Carlo nochmals ein. Dann sah ich klopfenden Herzens, wie er, so schnell ihn die alten Beine tragen wollten, die Treppe hinaufeilte.
Kaum aber hatte ich ihn aus dem Gesicht verloren, als eine namenlose Furcht sich meiner bemächtigte. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben allein auf der Straße; alleinzu einer vorgerückten Abendstunde und in einer Verkleidung, in die ich mich nicht zu finden wußte. Ich hielt krampfhaft meinen Carton in den Händen und suchte mich so zu stellen, daß das Licht nicht auf mein Gesicht fiel.
Jetzt kamen drei oder vier junge Leute die Straße herab; es schien mir, als wenn einer von ihnen mich scharf fixirte, aber ich wagte nicht, mich von der Hausthür zu entfernen. Meine Knie zitterten; ich war außer mir vor Angst und Verwirrung. Plötzlich machte der erwähnte junge Mann einen Schritt ans mich zu und bog den Kopf etwas zur Seite, um mir ins Gesicht zu schauen; da konnte ich mich vor Aufregung und Schreck nicht mehr beherrschen, ich riß die Hausthür neben mir auf und stürzte in die von einer Ampel matt beleuchtete Vorhalle und die Treppe hinauf.
Kaum war ich jedoch die Hälfte der Stufen emporgerannt, als sich die Thür zur ersten Etage öffnete und der Capitano daraus hervortrat. Er winkte in der mir so wohlbekannten, verbindlich ruhigen Weise einen Gruß zurück, und stieg dann nicht, wie ich gehofft hatte, die Treppe zu seiner Wohnung empor, sondern die Stufen hinab, mir entgegen. Er ging langsamen Schrittes an mir vorüber. Kein Blick zeigte ein Interesse an meiner Person, keine Muskel in seinem männlich schönen Gesicht verrieth, daß ihn auch nur das Geringste an meiner Erscheinung befremde.
Hätte ich es in diesem Augenblick über mich gewinnen können ihn anzureden, wer weiß, wie sich mein Schicksal gewandt hätte; aber ich war weit davon entfernt, meinen anfänglichen Zweck zu verfolgen. Eine eigenthümliche Wandlung ging bei dem Anblick des Offiziers in mir vor. Nicht etwa, daß mein Gefühl für ihn kälter geworden wäre — im Gegen- theil, mein Herz schlug ihm heißer zu, je abgeschlossener und ruhiger er sich mir gegenüber verhielt. Ich hätte vergehen mögen vor Sehnsucht und tiefem Weh, als er so nah und doch so unerreichbar für mich die Stufen neben mir hinabschritt — aber eine glühende Scham hatte sich plötzlich meiner bemächtigt. In dem leidenschaftlichen Weibe war angesichts der Wirklichkeit das durch Tradition und Erziehung tief begründete Anstandsgefühl jäh erwacht; die Keuschheit bebte zurück vor einem Schritt, der allen Begriffen von Sitte und Zurückhaltung Hohn sprach, und ich stand gegen das Treppengeländer gelehnt, an allen Gliedern zitternd und vollkommen fassungslos.
All mein Denken und Empfinden konzentrirte sich in einem Punkt. „Lieber den Tod erdulden," rief es in nur, „als daß
er Dich in dieser Verkleidung Abends und allein in seiner Be
hausung entdeckt; o viel lieber sterben vor Schmerz!"
Der Capitano stieg unbeirrt die Treppe hinunter, durchschritt die weite, mit Fliesen ausgelegte Vorhalle und ließ die Hausthür schwer ins Schloß fallen.
Ich stand ihm mit dem Rücken zugewandt und sah das alles nur im Geiste; aber jeder Ton, den ich hörte, jeder Schritt, der ihn weiter von mir entfernte, drang mir wie ein Dolch
ins Herz. Es war mir zu Muthe, als wenn ich in diesen
wenigen Minuten um ebenso viel Jahre älter wurde. . .
„Gnädiges Fräulein, Sie hier? Heilige Jungfrau, welche Unvorsichtigkeit!" rief mit gedämpfter Stimme Carlo, der, ohne daß ich es bemerkt hatte, hinab gekommen war. „Aber was ist mit Ihnen geschehen? Sie schauen krank und bleich aus! Schnell, kommen Sie aus diesem Hause fort!" Und eilig zog er mich m't sich hinaus auf die Straße.
„Nach Hause, Carlo!" das waren die einzigen Worte, die ich Hervorbringen konnte. (Schluß folgt.)
Eine KaiserHtttdiguirg unter der Erde.
Neben den schmerzlichen Ausbrüchen des Verrathes und der Untreue gehen die Aenßernngen und Zeichen der Liebe und der Treue für unfern thenren Kaiser. So erscholl an dem durch Mörderhand gebrandmarkten elften Mai, fast genau zu derselben Stunde, als das ehrwürdige Fürstenhaupt zum ersten Mal in ruchloser Weise bedroht wurde, tief unter der Erde bei der Feier eines Tnnneldurchschlages ein donnerndes Hoch auf den Kaiser. Der zwischen Vohwinkel und Dornap gelegene sogenannte Tesch-Tunnel, einer der sieben Tunnels, welche auf der Neubaulinie der Rheinischen Eisenbahn Düsseldorf- Hörde anszuführen sind, war „dnrchschlägig" geworden. Zur üblichen Feier des Dnrchschlages hatten sich die Gäste, Beamten, Unternehmer und Arbeiter in festlichem Zuge in den hell erleuchteten Tunnel be
geben. Nachdem an der Durchschlagsstelle in kurzer Rede der Bangeschichte des Tunnels gedacht war (der Richtstollen ist auf eine Länge von 750 Meter mit Handarbeit in der kurzen Zeit von vierzehn Monaten durchgetrieben), wurde der Durchschlag unter einem Hoch auf den Kaiser vollzogen; in demselben Augenblicke erglänzte der Tunnel in magischem Licht, eine unsichtbar aufgestellte Musikkapelle stimmte: „Heil dir im Siegerkranz" an, das von allen Anwesenden begeistert gesungen wurde. Durch das merkwürdige Zusammentreffen mit den Berliner Vorgängen hat die ergreifende Scene sich seitdem allen Fest- theilnehmern um so tiefer eingeprägt, und es wird ihnen, wie gewiß allen unfern Lesern, lieb sein, sie auch im Bilde festgehalten zu sehen.