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tigte und mich von einer hastigen unsteten Beschäftigung zur andern trieb; und dann konnte ich wieder Stunden lang unbeweglich sitzen und sinnend vor mich hinstarren.
Ich hatte nur einen Gedanken: den Capitano; ich hegte nur eine Hoffnung, daß er wiederkehren würde; ich suchte nur aus einem Grunde Gesellschaft und Zerstreuungen auf, um von ihm zu hören, ihn vielleicht zu sehen; ich träumte nur ein Glück, ihn für meine Worte um Verzeihung bitten zu dürfen, ihm zu sagen, daß ich für ihn empfände wie er für mich.
„Wie er für mich?" mußte ich nicht sagen: wie er einst für mich! Er hatte in dieser Zeit völlig zurückgezogen gelebt und war mir förmlich ausgewichen. Ich hatte ihn nicht einmal an unserem Hause vorüberreiten sehen. Kehrte das Militär von den Exerzierplätzen zurück, und wie oft erwartete ich jetzt ungeduldig diese Stunde, so bog er mit dem übrigen Regiment in eine andere Straße ein, noch ehe unser Hans passirt war. Kein Blick, kein Zögern ließ mich erkennen, ob noch ein Rest der alten Zuneigung für mich in seinem Herzen lebte. Ich litt entsetzlich; um so mehr, als ich nicht zu leiden wußte, als es zum ersten Male war, daß der Schmerz an mich herantrat; mehr noch, weil mein Stolz mir gebot im Geheimen zu leiden, und am bittersten, weil ich mir wieder und immer wieder sagen mußte, daß ich selbst mit muthwilliger Hand mein Glück zerstört hatte. Ich begriff jetzt nicht, es war mir völlig unfaßbar, daß ich mir nicht früher klar geworden war über den Zustand meines Herzens. Ein Mann wie der Capitano würde mir fürwähr nicht jene Worte gesagt haben, wäre er nicht überzeugt gewesen, daß er mir nicht gleichgiltig sei. Ich wußte jetzt, daß ich ihn liebte, daß seine Gegenwart, seine Zuneigung, die Sicherheit von ihm geliebt zu werden, mir Lebensbedürfniß sei, und meine Lage ihm gegenüber war eine namenlos qualvolle.
Oft sagte ich mir: „Du hast ihn mit den bittersten Worten fortgeschickt — er kann nicht wieder zurückkehren."
Dann wieder tröstete ich mich: „Er weiß, wie leicht sich mir ein unüberlegtes Wort über die Lippen drängt, er wird mir verzeihen und wieder eine Anknüpfung suchen." Hatte er doch mit klaren Worten, die ich mir, ach so tausendfach wiederholte, gesagt, welche unaussprechliche Freude es für ihn wäre, in meiner Nähe zu sein; wie sehr er unter meinem Fernsein leide.
Ja, aber was hatte ich ihm darauf erwidert! Ach, es war aus, alles aus.
Meiner Mutter hatte ich nichts von jener Scene mit- getheilt. So nachsichtig sie in fast jeder Beziehung gegen mich war, so wenig eigentliches Vertrauen hegte ich doch zu ihr.
Eines Tages sah ich ein Bittet in ihrem Körbchen liegen und glaubte des Capitano Hand auf dem Couvert zu erkennen; aber ich konnte mich nicht entschließen, eine Frage in Bezug darauf zu thun, aus Furcht, daß die Unterredung ans ein für mich sehr peinliches Gebiet übergehen würde. Ich hielt mich fast den ganzen Tag in meiner Mutter Arbeitszimmer auf, eine Rücksicht, die sie sonst wenig von mir gewohnt war, und versuchte, ihr durch alle erdenklichen Redewendungen eine Mittheilung über den ausschließlichen Gegenstand meiner Gedanken zu entlocken, aber immer vergebens.
Da wurde meine Mutter von Giovanna abgernfen, und ich blieb allein im Zimmer, allein dem verhängnißvollen Körbchen gegenüber. Ich kämpfte hart mit meinem Anstandsgefühl und meinem Stolz, es ist wahr; aber endlich trug meine fieberhafte Ungeduld den Sieg davon, und ich beging zum ersten Mal in meinem Leben mit vollem Bewußtsein eine Indiskretion und Unschicklichkeit; ich öffnete den Brief. Er war wirklich von dem Capitano und enthielt nur wenige Zeilen der Verabschiedung und des Dankes nebst einer Nachricht, die ich zuerst kaum begriff, so unerwartet traf sie mich: er hatte sich versetzen lassen, und gedachte andern Morgens in der Frühe Alessandria zu verlassen. Ich hatte kaum so viel Besonnenheit, den Brief zusammenzusalten und wie zuvor in das Couvert zu schieben, dann eilte ich überströmenden Auges in mein Zimmer, drehte den Schlüssel um und warf mich außer mir vor Kummer auf mein kleines Sopha.
Jetzt erst wurde ich mir bewußt, wie viel Hoffnung ich Noch gehegt hatte, aber zu gleicher Zeit auch sagte ich mir,
daß mit dem heutigen Tage jede Aussicht schwand, den Capitano wiederzusehen. Der Gedanke, unwiderruflich und im Zorn von ihm getrennt zu sein, war mir geradezu unerträglich und machte immer von neuem meine Thränen fließen. Ich preßte mein Taschentuch an den Mund, um nicht laut zu jammern vor Schmerz; ich weinte, weinte, weinte, als müßten meine Thränen ihn zwingen zu mir zurückzukehren, um mich zu trösten, mich, das vom Glück verhätschelte, vielumworbene Mädchen, das hier um ihn, den Verschmähten, klagte und schluchzte.
Nach einer kleinen Stunde mußte wohl mein Thränen- vorrath so ungefähr erschöpft sein, ich setzte mich, das zusammengeballte Tüchlein in der Hand, aufrecht in die Chaiselongue, starrte in verzweiflungsvoller Ruhe vor mich hin und überlegte allen Ernstes, was mir noch zu thun übrig blieb.
Noch weilte er in Alessandria, noch mußte er für mich zu erreichen sein; und mochten die Sterne am Himmel sich vor Verwunderung die Augen blind gucken, ich mußte und wollte ihn erreichen. Und hatte ich ihn erst erreicht, nun dann würde alles gut werden; „dafür wollte ich sorgen," sagte ich mir siegesgewiß.
Wenige Minuten später hatte ich meinen Entschluß gefaßt; ich kühlte und wusch meine armen schmerzenden Augen mit frischem Wasser, schloß die Zimmerthür auf und lief spornstreichs zu Carlo, der vor Staunen sein Putzzeug fallen ließ, als ich in seine Kammer neben dem Pferdestall trat.
Obgleich mir der Alte dringend den einzigen Stuhl an- bot, zog ich es vor, mich auf eine hohe Futterkiste zu schwingen, wahrscheinlich weil dieser Sitz meiner kühnen Stimmung mehr entsprechend war, befahl Carlo sich mir gegenüber zu setzen, und begann nach echter Diplomatenart, indem ich ihm eine Schmeichelei an den Kopf warf.
„Er sei von jeher der einzige Mensch gewesen, zu dem ich Vertrauen gehabt habe," sagte ich ihm. „Als ich klein gewesen sei, hätte er mir mein Spielzeug zurechtgeflickt; jetzt sei mir etwas viel wichtigeres in die Brüche gegangen, und ich sei so traurig, daß ich meine, das Leben sei entzwei;" und ich fing von neuem zu weinen an und beschwor ihn, mir zu helfen.
Jetzt hatte ich wenigstens die Genngthunng, daß meine Thränen nicht flössen, ohne Eindruck hervorzubringen. Carlo gerietst förmlich in Extase vor Angst und Sorge um mich. Er gelobte mir, daß er Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um mir Genngthunng zu verschaffen. Als ich aber — immer wieder von kleinen Thränenschauern unterbrochen — mein Herzeleid erzählte, entfuhr doch ein xm lmooo nach dem andern seinen zusammengepreßten Lippen, und er schüttelte rathlos den alten Kopf. Sodann rückte ich mit meiner Forderung vor — Ausfahren seinerseits und Unmöglichkeitserklärung.
Ich sprang mit einem Satz, der dem alten Kater in der Ecke Ehre gemacht haben würde, von dem Futterkasten herunter auf den Fußboden und wandte mich ab. „Nun ja," rief ich, „ich hätte es wissen können; ich habe eben keinen Menschen unter der Sonne, der mir wahrhaft zngethan ist."
Das war mein letztes großes Mittel gewesen, und es half mir zu meinem Ziel. Carlo willigte in alles, bat nur unter den lebhaftesten Gestikulationen, daß ich bei meinem beabsichtigten Wagniß Gestalt und Antlitz so viel wie möglich verhüllen solle, und sagte mir seine Begleitung auf einem Gange durch die abendlichen Straßen zu.
„Was liegt an mir altem Kerl? Merkt die Padrona etwas von der Geschichte — und daß niemand sonst etwas erfährt, dafür will ich schon sorgen — und jagt mich die Padrona aus dem Hause, ebllsna (nun wohl), so habe ich wenigstens dem kleinen Fräulein bewiesen, daß ich für das kleine Fräulein alles thun kann."
Ich fiel dem Alten entzückt um den Hals, und dann setzte ich mich, bedeutend sanfter gestimmt, auf seinen Schemel, um das Nähere zu verabreden.
Carlo wollte mir, um jedes Erkennen unmöglich zu machen, ein ordinäres schwarzes Schleiertuch besorgen, wie es die Frauen aus dem Volk Überwerfen. Auch gewöhnliche Kleidung, etwa für eine Dienerin Passend, versprach er, mir Linnen wenigen Stunden zu verschaffen. Abends, wenn er die Mama in