Heft 
(1878) 42
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der über Wehre herabfällt und über Felsblöcke plätschert, reich­lich bewässert; dann die mächtigen prächtigen Kastanienwälder mit ihrem dunkelschimmernden Laube und den Büscheln ihrer gelbgrünen stachelichten Fruchkhüllen; dazwischen die in Hun­derten und aber Hunderten von Terrassen sich aufbauenden Weinberge und sattgrünen Maulbeerpflanzungen; feuchte Felsen­schluchten, an deren Rändern die immergrüne Eiche die Fülle ihres dunklen Laubes entfaltet, und endlich droben auf den höchsten Höhen die dichten Gebüsche der Rothbuche das ist die neue Welt, in die wir plötzlich versetzt sind. Alles so frisch; allenthalben schimmern Rinnsale aus dein Buschwerk der Pflan­zungen; die Berge so kühn, die Linien so schön geschwungen; auf den Gipfeln hie und da eine nackte Felsmasse oder ein Felsrutsch, der nicht stört, der nur Abwechslung in die Scene bringt.

Wir überschreiten den Heranlt auf hoher Brücke, um ihn sogleich wieder zu verlassen und einem gleichschönen Seiten- thale nach dem Städtchen le Big an zu folgen, wo die Bahn vorläufig ihr Ende erreicht. Hier empfing mich ein Namens- und Geschlechtsvetter, ein Glied des in Frankreich verbliebenen Zweiges meiner Familie, und nun war ich in den Sevennen wie zu Hause.

Le Big an ist ein bezeichnendes Exemplar der Sevennen- städtchen. Hohe massive Häuser, enge Gassen, ein einziger, mehr langer als breiter Platz. Auf Schatten und Kühle ist die ganze Bauart eingerichtet. Da der Mittag nahe war, be­gaben wir uns in den Gasthof au elmval piano und nahmen ein Dejeuner ein. Schon fingen die Übeln Einflüsse der scharfen Gewürze an, sich in meinem Organismus bemerklich zu machen, die in den folgenden Tagen sich als ein förmlicher Gastricis- mus, als Entzündung der Darmschleimhaut, recht unangenehm in gänzlicher Appetitlosigkeit und anderen Beschwerden kund gaben; doch war das Uebel jetzt noch so in seinen Anfängen, daß ich für diesmal den Wohlgeschmack der Barbots, kleiner in Oel gebackener Heranltfischchen, noch zu würdigen im Stande war. Vor dem Piment, oder wie man hier zu sagen pflegt: poivi-cm, der als noch grüne Samenkapsel mit Stengel und Blättern aufgetragen wurde, um von einem jeden nach Belie­ben verwandt zu werden, hütete ich mich weislich.

Oberhalb des Städtchens befindet sich ein grüner Platz mit uralten Kastanienbänmen. Einige sind morsch und hohl in sich zusammengesunken gleich Bäumen eines Urwaldes und haben aus ihren Strünken neue Stämme getrieben; andere stehen noch in ihrer fünf- oder sechshundertjährigen Majestät, die Stämme so gewaltig, daß fünf Mann nicht hinreichcn, einen derselben zu nmklaftern.

Eine mit Menschen und Kisten vollgepropfte Diligence führte mich nach Pont de l'Heranlt zurück, und von da einige Meilen weit das Thal des Heranlt auswärts. Die unzähligen Vorsprünge der Berge zwingen Fluß und Weg in mäandrische Krümmungen, und bei jeder derselben öffnet sich ein neuer malerischer Ausblick. Das klare Flüßchen scheint stellenweise ganz versiegt, da nämlich, wo sein Wasser durch Wehre und Kanäle zur Wässerung absorbirt ist; an andern Stellen finden sich die verzettelteir Adern wieder zusammen in: gemeinsamen natürlichen Felsenbette; aber auch hier bleibt noch leerer Raum genug für die Zeit, wenn das Flüßchen durch Gewittergüsse oder Schneeschmelze zum tobenden Wäldstrom anschwillt. Das Thal ist, wie sich bei dem Reichthum der Kulturen erwarten läßt, wohlbevölkert; freundliche Ortschaften mit anmuthigen Landhäusern liegen malerisch die Hügel hinan; Seidenspinnereien stehen am Flusse.

Bei einer Gruppe von Landhäusern, wo eine der vielen massiven, schön gewölbten Brücken sich über das Thal spannt, verließen wir den Wagen. Der Hof, jetzt in mehrere Be­sitzungen getheilt, früher ein einheitliches Ganzes, hatte vor 1685 meiner Familie gehört und gehörte noch vor wenigen Jahrzehnten dem dort verbliebenen Zweige derselben, bis die allzu zahlreiche Vermehrung des letzteren zu einem Verkaufe

Anlaß gab. Von dem alten Edelhofe steht nichts mehr; im Laufe zweier Jahrhunderte ist alles umgebaut und modcrnisirt. Eine Mühle, jetzt im Souterrain eines eleganten Nenbaus ver­steckt, ist noch der einzige Rest aus alter Zeit. Von hier führt als nächster Weg ein steiler felsiger Saumpfad nach der Ortschaft Ardaillers (sprich: Ardaljäß) hinaus, wo die Filature (Spin­nerei) meines Geschlechtsvetters sich befindet und die das eigentliche Ziel meiner Reise war. Dort inArdalerye" haben ich fand an Ort und Stelle die alten Pergamente schon im 14. Jahrhundert meine Vorfahren gesessen. Die Ortschaft, noch 1685 ein Städtchen, dessen prsmisr eonmU damals ein Jean de la Porte war, jetzt ein bloßes Annex der Stadtgemeinde Vallerangue, liegt in drei gesonderten Häuserkomplexen hoch oben auf den drei einzigen eine Halbweg ebene Fläche bie­tenden Stellen des steilen Abhanges der86/re ck'Oriol". Das provenyalische Wort sa^ro entspricht der spanischen Sierra.

Links von dem Rinnsal, das den Berg herab eine Bucht oder Schlucht bildet, liegt loa ma8 ck'oSlsieo, rechts etwas höher Ion ML8 Oübsrt, und noch beträchtlich höher über letzterem 1o,c NM8 äliAuiöl. (äln.8 ist das lateinische irmnmm; das 8 wird gesprochen.) lieber die massive Bauart werde ich später reden. Prachtvoll ist die Aussicht vom ma8 NiZuiel, das meine Wohn­stätte für einige Zeit werden sollte. Fünf bis sechs Bergketten thürmen sich, bis in die blaue Ferne hinaus, eine über der andern in kühnen Zacken empor. Die nördlichen (auch die oberen" genannt, weil ihre höchsten Gipfel die der südlichen um einige hundert Fuß an Höhe übertreffcn), haben den Charakter eines Hochplateaus; dort dehnen sich jene viel­genannten LNU868 (Hochebenen) aus, in welche die Thäler in schroffem Absturz eingesägt sind; anders dieunteren", d. i. seewärts gelegenen südlichen Sevennen; hier kommen auf dem Rücken einzelner Berge, z. B. der Luzette, hier und da zwar Strecken von geringer Breite und Ausdehnung vor; meist aber schärfen sich die Berge zu schroffen wildgezackten Kanten und Spitzen, ja Nadeln zu. So sehen wir im Südost als fernste Hochwacht den Montdardier ragen mit einer Reihe von Pies, und endlich in einen gewölbten Rücken verlaufend, an dessen Fuße das gleichnamige Schloß sich zeigt; links vor ihm ragt die steile Pyramide der Roqnedure; links von ihr der hohe Kaum: des Mont Lirone; im Vordergrund senkt sich der Blick Stockwerk um Stockwerk, von Kette zu Kette, bis er an einer einzigen Stelle in die Tiefe des Heraultthales hinabzudringen vermag. Rechts von da wird ein langer grüner Grat hoch überragt von der langgestreckten schroffen, wunderschön gerippten Wand der Luzette, deren Ende sich an den Paß des Esperou, den Centralpunkt der südlichen Sevennen anschließt! Dort oben ist mit bloßem Auge die 86)M6 imiäs (Schroffenberg) sichtbar, ein Gasthaus auf der Wasserscheide zwischen Heranlt und Jonte, zwischen Mittelmeer und atlantischem Ozean. Neben ihr zeigt sich eben noch der höchste Gipfel, der Mont Aigoal; dann schließt ein Vorsprung unseres Oriol als Cvulisse die Aus­sicht ab.

Wer könnte sie malen, wer sie schildern, die wunder­samen Tinten, in denen bei Sonnenauf- und -Niedergang diese Höhen schimmern? wer schildern das Spiel der bläulichen, knpferigen, rosigen Lichter, des Halbdunkels und des Hellen Glanzes ans dem Lichtgrün der Pflanzungen, aus den Fclsen- rippen, auf den Matten, die von den Massen einer prachtvoll karminrothen Erica bedeckt, wie türkische Teppiche schimmern? Und nun vollends der Sternenhimmel! Der gestirnte Himmel erglänzt schon unten in der Vaunage in einer Pracht, von der wir Nordländer uns kaum eine Vorstellung machen. Und gar hier oben in völlig dunstfreier Luft funkelten Sterne und Milchstraße in einer unbeschreiblichen Glut. Jupiter, Mars und Saturn brannten wie Feuerkugeln; Wega stand im Zenith wie eine kleine Sonne; es war, als ob sie alle herabkämen mit ihrem Lichte; sie schienen dem Auge näher zu sein, als die in tiefen Schatten versunkenen Berge.