Heft 
(1878) 44
Seite
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Freund nicht zu wecken, leise hinaus in den Garten. Eine Flut von widersprechenden Empfindungen erfüllte und verwirrte ihn. Mahnend erhob das Gewissen seine Stimme und er fragte sich: Ist diese Aussicht nicht nur eine neue Versuchung? Darf ich zulasten, daß sie auch an Louise herantritt? Können wir uns denn jemals trennen und wenn wir es auch beide wollten? Schickt Gott uns nicht diese Prüfung, damit wir sie hinnehmen als eine gerechte Strafe für unsere Schuld und sie geduldig tragen? Gilt es nicht, hier seine Schuldigkeit zu thun, ohne nach rechts oder links zu sehen und das Verlangen des eigenen Herzens an die Kette legen? Sie büßten einen leichtsinnigen Augenblick mit ihrem Lebensglück und sie thaten es einer den anderen zur Qual. Sie konnten beide glücklich sein und glück­lich machen, und doch sollten sie entsagen. Warum? Es war ein verführerisches Wort dieses:Warum?" Und es erklang immer und immer wieder, aber Ernsts in der harten Schule des Lebens gekräftigter Wille widerstand ihm erfolgreich. Das Bild dessen, der ohne jedes Verschulden ungleich Härteres er­duldete, richtete sich vor ihm ans, was wollte dagegen sein Leid sagen?Wir wollen nicht nach dem Glück sehen," murmelte er halb­laut,das haben wir verscherzt. Wir wollen unsere Pflicht thun."

Ernst begab sich mit festen Schritten ins Haus und zu seinem Freunde, der ebenfalls wach im Bette lag. Er theilte ihm kurz seinen Entschluß mit.Unser Herz ist wie ein Rohr im Winde," sagte er,das Gewissen und Gottes Gebot sind die starken Stäbe, aus die wir uns stützen können. Louise und ich gehören zusammen für alle Ewigkeit, und wenn wir uns nicht lieben können, so müssen wir uns tragen."

Das Wort kam aus der Seele, und Julius achtete es, obgleich es ihm die liebsten Hoffnungen zerstörte.Du magst recht haben," sagte er,Gott segne Dich und sie."

Die beiden Freunde blieben noch lange bei einander, bis der Helle Tag in die Fenster sah. Dann bat Julius, anspanncn zu lassen. Als der Wagen vorfuhr, umarmte er den Freund noch einmalGott segne Dich und sie," sagte er abermals,werdet wenigstens Ihr glücklich." Als der Wagen davon rollte, blickte ihm Ernst mit starrem Auge nach. Es war ihm, als ob er ihm Nacheilen und den Freund zurückhalten müsse. Aber er blieb unbeweglich.

Als der Wagen hinter der Waldecke verschwand, verhüllte er sein Gesicht mit den Händen. Nun erst war Gertrud ganz für ihn verloren. Am Nachmittag erzählte ihm Katherine, daß Gertrud Plötzlich verreist sei. Ernst athmete erleichtert auf.

VIII.

Die alte Katherine hatte die Wahrheit berichtet. Gertrud war auf Reisen. Als am Tage nach der Ausfahrt nach Buchen­haide eine Depesche von der Großmutter angekommen war, in der diese bettlägerig und krank, nach ihrer Tochter, der Frau Oberförsterin verlangte, hatte Frau Baum darauf bestanden, daß Gertrud statt ihrer reise, angeblich weil sie die angefange­nen warmen Bäder nicht aussetzen konnte. Gertrud, gewohnt und gern bereit, ihre Wünsche denen ihrer Eltern unterzu­ordnen, hatte eilig ihre Sachen gepackt; aber zum ersten Mal fühlte sie, daß es nicht immer leicht ist, Kindespflichten zu er­füllen. Am andern Morgen indes, als sie der Mutter zum letzten Mal die Hand aus dem Wagen gereicht hatte, leuchtete ihr Auge wieder in alter Liebe und Freundlichkeit. Hatte sie es sich in der Nacht doch klar gemacht, daß keine Entfernung ihre Liebe zu Ernst Römer beeinträchtigen könne, und daß er Zeit gewinnen müsse, den Stein fortzurollen, der ihnen den Weg zum gemeinsamen Glück versperrte. Daß er es thun und endlich das Ziel erreichen würde daran zweifelte sie keinen Augenblick.

So fuhr sie denn heiter und glücklich wie nie zuvor dem Wohnort der Großmutter entgegen. Dore, die alte treue Magd der Frau Jordan, empfing sie am Bahnhof.

Willkommen, Dore!" ries ihr das junge Mädchen freudig aus dem Coupö entgegen.Wie geht es der Großmama? Doch besser?"Nun freilich, Fräuleinchen. Es war wieder ein solcher Krampf wie im Herbst, als die Frau Oberförsterin schnell herkam. In den Stunden hat man eine Todesangst, und es ist der alten Gnädigen nicht zu verdenken, daß sie gleich tele- graphirt, aber heute ist sie schon ein bischen aufgestanden und

Fräuleinchen finden sie im schwarzen Lehnstuhl. Aber das ist wahr," fuhr sie fort, als sie nach wenigen Minuten in der Droschke der Stadt Zufuhren,das Ganze kam diesmal so schnell und war gleich so heftig, daß ich vor Angst vergangen wäre, wenn die liebe gute Frau Weinlandt nicht bei uns ge­wesen. Fräuleinchen haben sie ja schon zu Neujahr bei uns gesehen. Ach, mein Gott, Fräuleinchen, das ist ein wahrer Engel!" und nach Art alter verwöhnter Dienstboten hörte sie nicht eher mit ihrer ausführlichen Schilderung von den Vor­zügen der Genannten auf, bis die Droschke an der Thür hielt und Gertrud ganz genau darüber informirt war, daß Frau Weinlandt jetzt wöchentlich zwei Tage statt des einen früheren bei der Großmama nähe, daß sie oft des Abends herüberkomme, daß sie stets Sonntags Kaffee bei ihnen trinke, und daß ihr kleiner Sohn ein Wunder von Klugheit sei.

Im nächsten Augenblicke lag Gertrud in der Großmutter Armen, und saß dann an ihrem Bette plaudernd und er- erzählend von Daheim und von der Nähe. Gegen Abend kam Frau Weinlandt mit ihrem Kleinen herüber und wurde von beiden herzlich willkommen geheißen. Frau Jordan hatte ihr Möglichstes gethan, Dores Beschreibungen von den guten Eigen­schaften der jungen Wittwe zu vervollständigen, und da Gertrud sie bereits früher zweimal gesehen hatte, so kam sie ihr fast wie einer alten Bekannten entgegen, der sie herzlich für alle Güte dankte, welche sie der kranken Großmutter erwiesen hatte. Mit dem kleinen Otto hatte sie schon damals Freundschaft geschloffen. Der feurige geweckte Knabe hatte sich zu dem heiteren frohen Mädchen hingezogen gefühlt, und da Gertrud Kinder liebte und diese wieder sehr schnell begreifen, ob ihnen von Erwachse­nen wahre Liebe und Theilnahme entgegengebracht wird oder nicht, so war es ganz natürlich, daß der Kleine die Tante Gertrud sofort erkannte und ihr stürmisch um den Hals siel.

Gertrud schrieb in dem Briefe, den sie versprochenermaßen noch am ersten Abend an ihre Mutter richtete, unter anderem: Frau Weinlandt entspricht ganz dem Bilde, das Großmama von ihr in ihren Briefen entworfen hat, nur möchte ich sagen, sie sei geistig bedeutender, als Großchen sie schilderte. Wir haben heute Abend schon unsere Meinungen über allerlei Dich­ter ansgetauscht und ich habe bei ihr ein so warmes Interesse für die literarischen Erzeugnisse der Neuzeit gefunden, daß ich mir manche angenehme Stunde von ihrer Gesellschaft verspreche. Irre ich nicht, so hat die junge Frau schon viel Trübes im Leben durchgekämpft; ihr ganzes Wesen erscheint wie verklärt durch einen großen Schmerz. Als sie nach Hause gegangen war, und ich Großmama danach fragte, ob diese Läuterung durch den Tod ihres Mannes hervorgerufen sein könne, erzählte sie mir, daß Frau Weinlandt jeder Frage nach ihm scheu und geflissentlich ans dem Wege gehe und sie dieselbe deshalb nie mehr mit einer solchen behellige. Es muß schwer sein, in so jungen Jahren ein so tiefes Leid in der Brust zu verschließen. Wie viel, viel besser habe ich es doch, der der liebe Gott Dich, Herzensmama, zur Vertrauten gegeben! Bon Römer habe ich Großmama nichts erzählt. Vermeide, bitte, in Deinen Briefen auch die kleinste Andeutung Großmama würde sich nur be­unruhigen. Mir schreibe darüber, so oft und so viel Du nur immer weißt Du kennst ja das verlangende Herz

Deiner Gertrud."

Diesem ersten friedlichen Abend folgten vierzehn Tage des heitersten ungetrübtesten Glückes. Frau Weinlandt kam regel­mäßig abends mit ihrer Näharbeit herüber; es wurde musizirt und vorgelesen. Da der größte Theil der alten Bekannten von Frau Jordan schon ins Bad oder aufs Land gegangen Frau Jordan war nur durch ihre Krankheit an dem alljähr­lichen Sommerausflug nach Lichterfelde verhindert so brachte Gertrud fast stets die Nachmittagsstunden, während die Groß­mama schlief, in der kleinen Wohnung der Frau Weinlandt zu. Es lag auf dem kleinen Stübchen mit den schneeweißen Gar­dinen, den blühenden Rosenstöcken am Fenster, Ottos Kanarien­vogel im blanken Käfig, den einfachen schlichten Möbeln und der Sauberkeit, die überall herrschte, ein solcher Hauch echter, genügsamer Weiblichkeit, daß Gertrud sich von Tag zu Tag wohler darin fühlte. (Fortsetzung folgt.)