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sei zuletzt auch unsere Ehre mehr und mehr ein Schattenbild geworden. Eine Flut von Eitelkeit und Verschwendung habe die mühsamen Werke besserer Jahre zerstört, bis es endlich über uns hereingebrochen sei und der Herr, um mit den Worten des Propheten zu sprechen, „Wider uns geredet habe", als wider ein Volk, das er ausrotten, zerbrechen und verderben wolle. Ein zermalmendes Kriegsunglück, das noch in unser aller Gedächtniß sei, habe uns schließlich von unserer falschen Höhe in den Abgrund geworfen."
Hier machte Seidentopf eine Pause. Dann, sich vorbeugend, fuhr er mit gehobener Stimme fort: „Ein zermalmendes Kriegs- nnglück, sagte ich. Aber schlimmer als dieser Krieg war der Frieden, der folgte. Ich rede nicht von der äußerlichen Noth, die er mit sich führte, ich rede von der traurigen Gewöhnung, die er schuf, das Unwürdige zu dulden. Eine Gewöhnung, die so weit ging, daß in vielen Gemüthern (nicht in den Euern, meine Freunde) der Wunsch und die Hoffnung auf einen bessern und würdigeren Zustand verloren ging. In vielen war nur noch der Gedanke lebendig, wie man sich dem fremden Joch am bequemsten fügen könne. Andere aber, die noch die Hoffnung auf eine bessere Zeit nicht aufgeben wollten, worin gefielen sie sich, in was suchten sie die Rettung? In Lug und Trug. Ihr Thun wurde Heuchelei und um die drohendste Gefahr zu vermeiden, zeigten sie Freundschaft und baten um solche, wo sie doch nur verachten und verabscheuen konnten. Jene Schamlosigkeit war da, die um des Lebens willen jeden edleren Zweck des Lebens hintenansetzt oder vergißt. So war unser Zustand, meine Geliebten, und wir selber waren nach den Worten der Schrift „wie die Heiden in der Wüste". Das waren die zurückliegenden Tage unserer Gefangenschaft; aber danken wir dem Herrn: ein neuer Tag ist da."
Und nun begann er seiner Gemeinde zu zeigen, was dieser „neue Tag" erheische und bedeute: Rückkehr zur Wahrheit, Rückkehr zu dem Muthe, den die Wahrheit gibt. Er führte dies aus und nannte die „Wehrhaftigkeit des Volkes", wie sie durch den heute verlesenen Aufruf proklamirt worden sei, eine Morgengabe, eine Gewähr besserer Zeiten. Im Gegensatz zu Jahrzehnten, wo der Uebermuth des Soldaten den Muth für etwas ihm ausschließlich Zuständiges gehalten habe, sei der Muth jetzt eine Pflicht jedes Einzelnen geworden. Und diesen Muth würden auch sie zu bethätigen haben, jede Stunde könne sie rufen, und käme sie, so sollten sie sich derselben würdig zeigen."
Andächtig war die Gemeinde gefolgt. Auch Lewin hatte diesmal nicht Zeit gesunden, nach dem Rothkehlchen auszuschauen, und nur Tubals Aufmerksamkeit war bald abgeirrt und hatte zwischen dem großen Grabdenkmal und dem silbernen Altar- crucifix einen mechanischen Pendelgang gemacht, den die wunderlichsten Fragen begleitet hatten. „Wie viel hat das Grabdenkmal gekostet?" „Wovon sind die Messingleuchter so blank?" „Welcher Vitzewitz hat das Crucifix gestiftet?" und dann waren neue Fragen gekommen, um schließlich den ersten wieder Platz zn machen. Und woher das alles? Hatten die Seidentopfschen Worte doch eines tieferen Tones entbehrt? O nein; aber auf dem Pendelgange zwischen dem Grabdenkmal und dem Crucifix trafen seine Blicke Marie. Das war es. Ihr Mund zuckte von Zeit zu Zeit und ihre großen dunkeln Augen erschienen wie geschlossen, so tief lagen sie unter dem Schatten ihrer Wimpern. Er sah das blasse feingeschnittene Profil, und sah es, bis er nur noch sah, und nichts mehr hörte, als die Stimme des Vorwurfs, die leise in seinem Herzen mitklang.
Die Predigt hatte mittlerweile geschlossen, nur das Gebet war noch zu sprechen und alles sah erwartungsvoll zu der Kanzel auf, auch Marie. Sie fühlte wohl, daß Blicke von dem Chorstuhl her sie trafen, aber sie hatte die Kraft, dieser Blicke nicht zu achten oder doch in ihrer Seele sich ihrer zu erwehren. Denn sie war reinen Gemüths und ohne Schein und Falsch.
Seidentopf aber betete: „Barmherziger Gott und Herr, Du hast Großes an uns gethan, daß Du uns berufst, um ein freies und würdiges Dasein zu kämpfen. Steh uns bei. Der Sieg kommt von Dir und mit Vertrauen ist es, daß wir Heil
und Segen für unser Thun von Dir erstehen. Schütze den König, verleihe Weisheit und Kraft den Heerführern, Muth denen, die die Waffen tragen, treue Ausdauer aber allen, auch uns. Und wie das Glück des Krieges auch wechseln möge, eines gib uns als seine letzte Segnung, gib uns Freiheit und Frieden."
Nun fiel wieder die Orgel ein, der letzte Vers wurde gesungen, und langsam erhoben sich die Hohen-Vietzer und verließen die Kirche. Marie blieb zurück, um Renaten und die Schorlemmer zu begrüßen; dann schritten sie gemeinschaftlich den Mittelgang hinunter. Tubal und Lew in folgten.
Als alle den spitzbogigen Mauereinschnitt erreicht hatten, der von der Seite her in den Thurm führte, bemerkte Marie, daß sie das Gesangbuch sehr wahrscheinlich auf ihrem Sitzplätze habe liegen lassen. Sie wollte umkehren, aber Tubal litt es nicht und schritt den Mittelgang wieder hinauf, um das vermißte Buch zu holen. Marie sah ihm nach und wartete, während die andern durch das Außeuportal ins Freie traten.
Das Buch war nicht da. Tubal, nachdem er erst auf der Bank und dann am Fußboden hin und her gesucht hatte, richtete sich endlich wieder auf und machte mit beiden Armen eine Bewegung, die das Vergebliche feiner Bemühungen aus- drücken sollte.
Marie rief ihm zu: „Da muß ich selber kommen," und ging nun ebenfalls das Kirchenschiff hinauf. Aber in diesem Augenblicke hatte sich das Buch auf einem schmalen Brett unter der pultartigen Schrägung gefunden und Tubal hielt es trium- phirend in die Höhe und ihr entgegen. Sie nahm es dankend aus feiner Hand, wandte sich dann und schritt eilig wieder dem Ausgange zu; ehe sie diesen jedoch erreichte, hörte sie, daß von außen her zugeschlossen wurde. Der alte Kubalke, von seinem Orgelchor herabkommend, hatte nicht bemerkt, daß noch wer in der Kirche war.
Marie fuhr zusammen, faßte sich aber rasch und sagte: „Wir sind eingeschlosfen, pochen Sie schnell an die Thür."
Auch Tubal war erschrocken, aber wie von einem elektrischen Schlage getroffen.
„Wozu, Marie," sagte er, „er würde uns doch nicht hören. Und so sind wir denn Gefangene."
„Ja; aber in einer Kirche gefangen. Und auf alle Fälle, die Fenster sind nicht hoch ..."
„.. .. doch zu hoch für einen Sprung."
„. .. . Und Renate wird unsere Abwesenheit bemerken."
„Gewiß; aber ich denke, nicht zu früh."
Marie hörte, wie seine Stimme zitterte.
„Gut," sagte sie, „so sind wir denn Gefangene. Machen wir das Beste davon und nutzen wir die Zeit. Es verlohnt sich immer, zu lernen, und ich wette, sie kennen unsere Kirche noch nicht. Niemand kennt sie; jeder glaubt genug gethan zu haben, wenn er das große holländische Monument bewundert und den Namen des alten Matthias von Vitzewitz oder wohl gar den seiner tugendreichen Veronika von Beerfelde mühsam entziffert hat. Das heißt dann die Hohen-Vietzer Kirche kennen. Wir haben aber hier vielerlei."
Sie sprach dies alles in beinahe heiterem Tone, ganz ersichtlich, um ihre Befangenheit zu verbergen, und als Tubal, statt aller andern Antwort, ihr nur immer forschender ins Auge sah, fuhr sie rascher und hastiger fort: „Ich muß Ihnen das alles zeigen. So verlieren wir diese Minuten nicht. Bon dem zerbrochenen Taufstein, von dem die Leute sagen, er sei tausend Jahre alt, will ich Ihnen nicht erst sprechen, Sie glauben es nicht; aber hier rechts das Muttergottesbild, das müssen Sie sehen. Sehen Sie, die Maria hat ihr Christkind aus den Händen fallen lassen."
„Vielleicht weil sie wieder freie Hand haben wollte."
„O nicht doch, das ist Spott und gottlos. Und ich sehe schon, es Paßt so wenig für Sie, wie der tausendjährige Taufstein. Aber hier, das ist etwas, das paßt für uns beide," und dabei zeigte sie mit ihrer Hand auf einen alten, aufrecht stehenden Grabstein, der in die Wandstelle dicht neben dem Muttergottesbilde eingemauert war.