Heft 
(1878) 44
Seite
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Nachdruck verboten. Ges. v. 11./VI. 70.

Wor dem Sturm.

Historischer Roman von Theodor Fontane.

(Fortsetzung.)

IUI. Eingeschlossen.

Der nächste Tag, ein Sonnabend, war ein Tag der Vor­bereitungen. Bamme saß über Plänen und Karten, während Berndt in aller Frühe aufgebrochen war, um die fernerstehenden Truppentheile heranzubeordern. Gleich nach drei Uhr war er von diesem Ausfluge zurück. Als er wenige Minuten später in das Parterrezimmer des alten Generals eintrat, fand er diesen in eifrigem Gespräche mit Drofselstein, der eben über seine Sendung ins russische Hauptquartier rapportirte. Tscher- nitschess war ihm nicht nur mit ungesuchter Artigkeit entgegen­gekommen, sondern hatte sich auch dahin geäußert, daß er auf Vorschläge wie diese, mit andern Worten auf Kooperation ge­rechnet habe. Nur diese verspreche bei dem kleinen Kriege, der voraussichtlich durch die nächsten Wochen hin geführt werden müsse, die gewünschten Erfolge. Der Ueberfall Frankfurts, wenn von allen Seiten rechtzeitig eingegriffen würde, böte geringere Schwierigkeiten, als es aus den ersten Blick erscheinen möchte. Die Truppen seien deeouragirt, unter allen Umständen aber er­heische die Parkirung eines so bedeutenden Geschützmaterials einen ernsten und raschen Versuch. Er proponire deshalb die Nacht von Montag auf Dinstag und werde seinerseits im Laufe des voraufgehenden Tages bis in die Kunersdorfer Gegend rücken, um von dort aus zu näher festzusetzender Stunde die Dammvor­stadt angreifen zu lassen, und zwar mit zweitausend Mann Elitetruppen. Seines Eifers dürfe man sich versichert halten; er werde persönlich zugegen sein und den Angriff leiten.

So Drosselsteins Bericht, dem Berndt und Bamme mit wachsendem Interesse gefolgt waren. Beide glaubten in dem guten Ausgange dieser Mission das Unterpfand weiteren Ge­lingens erblicken zu dürfen und setzten die schon vorher geplante Rekognoszirung gegen Frankfurt" aus den nächsten Vormittag fest. Zugleich dankten sie dem Grafen für den diplomatischen Takt, mit dem er die Verhandlungen geführt habe, woran sich die Bitte reihte, bleiben zu wollen. Drosselstein indessen lehnte, Geschäfte vorschützend, ab und empfahl sich, nachdem er noch einmal gebeten hatte, die Nacht von Montag aus Dienstag, schon nm den guten Willen Tschernitscheffs nicht zu verwirren", zu Ausführung des Unternehmens im Auge behalten zu wollen.

Gegen Abend kam Seidentopf, und Jeetze wartete, daß der Kartentisch befohlen werden würde. Die Tarokpartie siel aber ans, ein Zeichen, daß die Generälspflichten schwer auf Bamme zu lasten begannen. Er selber scherzte darüber und suchte sich durch Selbstpersiflirung, die dann wieder mit Uebermüthigkeit wechselte, die Last etwas leichter zu machen; aber er kam nicht weit damit, und nur als Berndt von der Heiligkeit des Sonn­tags zu sprechen und zu Seidentopf gewandt einmal über das andere zu bedauern begann, daß er, um der Frankfurter Re- kognoszirungsfahrt willen, die Kirche, die Predigt und die Verlesung des Aufrufs versäumen müsse, regte sich der alte Widerspruchsgeist in ihm, und er fuhr mit einemich für mein Theil, ich versäume nicht viel" scharf und trocken dazwischen. Einige Minuten später zogen sich alle zurück, nachdem man noch überein gekommen war, sich am andern Morgen eine halbe Stunde früher als gewöhnlich am Frühstückstische zu treffen.

Und nun war dieser andere Morgen da, und die Glocken des Hohen-Vietzer Thurmes klangen durch die winterklare Luft. In dem Herrenhause war alles Leben und Bewegung, die einen rüsteten sich zum Gange in die Kirche, die andern zu der Frankfurter Fahrt. Es fehlten nur noch zehn Minuten an zehn; Krist fuhr vor (wieder die Ponies) und erst Berndt und Bamme, dann Hirschfeldt und Grell bestiegen das offene Ge­fährt. Nur Lewin und Tubal blieben zurück, vielleicht weil die Sitzplätze des Wagens nicht recht ausreichten, aber wohl mehr noch, um an einem so wichtigen Tage wie der heutige, den herrschaftlichen Chorstuhl nicht unbesetzt erscheinen zu lassen. Und jetzt begannen die Glocken zum dritten Mal zu läuten und während mit den Abfahrenden noch Grüße gewechselt wurden, boten die beiden zurückbleibenden Freunde den schon zum Kirch­

gänge bereitstehenden Damen ihren Arm und schritten mit ihnen erst durch die verödeten Gänge des Parkes, dann durch die Lindenallee hin auf die Kirche zu. Die kleine Seitenpforte war verschlossen, so daß sie heute den Haupteingang benutzen und durch den Thurm, wo die Bahre und die gesprungene Türken­glocke stand, in die Kirche eintreten mußten. Diese war schon gefüllt, da jeder in Erfahrung gebracht hatte, daß ein Wort über Krieg und Frieden von der Kanzel gesprochen werden sollte.

Es war ein schöner Tag; alles sah hell aus, und dieser Eindruck wuchs noch, als die lichte Gestalt unseres Seidentopf auf der Kanzel erschien. Der Gesang schwieg und nur die Orgeltöne klangen noch leise nach, während alles sich neigte, um, dem Vorgänge des Geistlichen folgend, ein stilles Gebet zu sprechen. Nun aber ging es wieder wie Leben durch die Versammlung, aller Köpfe richteten sich auf und Seidentopf, mit der Rechten sein langes weißes Haar zurückstreichend, be­gann:Andächtige Gemeinde! Der Tag, den wir ersehnt haben, ist gekommen. Vor Wochen und Monaten schon, als Gott auf den russischen Schlachtfeldern sein Zeichen gab, als edle und tapfere Heerführer, den Schein des Ungehorsams nicht fürchtend, im wahrhaften Sinn und Geist unseres Königs zu handeln und den ersten entscheidenden Schritt zur Abwerfnng eines uns unerträglich gewordenen Joches zu thun wagten, schon damals wußten wir, daß dieser ersehnte Tag kommen werde. Aber er war noch nicht da. Nun ist er angebrochen. Der Ueber- gang von der Knechtschaft in die Freiheit bereitet sich vor. Der König hat geredet, das ungeduldig erwartete Wort, es ist ge­sprochen worden. Jeder unter Euch kennt es, aber von dieser Stelle aus sei es noch einmal verkündet."

Und nun entfaltete unser Freund das den Aufruf ab­schriftlich enthaltende Blatt und las mit lauter und eindringlicher Stimme. Die Wärme seines Vortrags lieh auch den einfachsten Sätzen Bedeutung und Leben und eine Wirkung gab sich zu er­kennen, wie sie bei dem Einzellesen daheim niemand an sich erfahren hatte. Besonders waren es die Worte, die von der Vaterlandsliebe und der in Zeiten der Gefahr immer am leb­haftesten bewährten Anhänglichkeit an den König sprachen, denen die Versammlung mit sichtlicher Bewegung folgte.

Und Seidentopf fuhr fort:So, meine Freunde, hat der König gesprochen. Gesprochen wie noch nie zuvor, weil er noch nie zuvor in gleich hohem Maße das für einen König erhebendste und beglückendste Gefühl haben durfte, das Gefühl einer reinen und vollkommenen Uebereinstimmung mit seines Volkes Wunsch. Ein heiliger Krieg ist es, der beginnt, ein Krieg voll Hoffnung auf innerliche Befreiung, und so will ich denn sprechen über die Worte des Propheten Jeremias im achtzehnten Ka­pitel:Und Plötzlich rede ich gegen ein Volk und Königreich, daß ich es ausrotte, zerbreche und verderbe; wo sich es aber bekehret von seiner Bosheit, dawider ich rede, so soll mich auch reuen das Unglück, das ich ihm gedachte zu thun." Ja, meine Freunde, Gott war auch wider uns, daß er uns ausrotte, zer­breche und verderbe um unserer Schuld und Sünde willen, denn diese Schuld war groß."

Und nun begann er, rückwärts blickend, feiner Gemeinde das Bild unserer Schuld zu malen. Unter eines großen Königs Regiment hätten wir rasch den Gipfel des Ruhmes erklommen, eines Ruhmes, der uns hochfahrend, sorglos und bequem ge­macht habe. Unredlicher Gewinn habe zum Ueberfluß unser Gebiet vergrößert, bis die Hälfte unseres Landes ans fremdem Volk bestanden habe, derart, daß wir kaum noch gewußt hätten, ob wir Deutsche seien oder nicht. Und während von andern Völkern um hohe Güter des Lebens gekämpft worden sei, hätten wir selbstgerecht und selbstsüchtig seitab gestanden und des Glaubens gelebt, daß wir durch bloße Ruhe mächtiger und furchtbarer werden würden. So sei der trotzig-übermüthigen Klugheit unserer staatlichen Jugend eine verzagte Klugheit auf dem Fuße gefolgt uud mit dem Hinschwinden unseres Ruhmes