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vertraulich Platz genommen, als die Mörder — der grimme Lord Rnthven, der es übernommen hatte, die Rache des Königs und des Landes an Rizzio zu vollstrecken, an der Spitze — eintraten.
„Ich sehe hier einen Menschen," herrschte er den Günstling ander übrigens kein schöner Mann war, sondern etwas Mürrisches, Abstoßendes in seinen Gesichtszügen hatte nnd den Eindruck vorgerückter Jahre machte — „der einen Platz einnimmt, welcher ihm nicht gebührt; von einem Dienstboten, wie dieser, wollen wir uns in Schottland nicht regieren lassen." Mariens Schutzversuch war vergeblich — über ihre Schulter hinweg empfing Rizzio die ersten Mordstöße, dann schleppte man ihn sort auf dem Wege, den auch wir jetzt einschlugen, nnd versetzte ihm Stich auf Stich und Stoß ans Stoß, bis er aus mehr als fünfzig Wunden blutend vor der Thür des Empfangszimmers der Königin todt liegen blieb. Mir grauste, als ich mir das alles vergegenwärtigte — ich mochte die Blutflecken nicht sehen, die der diensteifrige Führer in routinenmäßiger Weise neben den anderen Merkwürdigkeiten aufzählte — es drängte mich, herauszukommen aus den alten Mauern, mit denen der Stuarts Niedergang und Fall so eng verflochten ist, das Schloß zu verlassen, in welchem einst Karl I gekrönt wurde, und dann Cromwells Soldaten kampirten, in dem die Jakobiten einen kurzen Freudenrausch mit Prinz Charles genossen, aber nur zu bald dem Sieger von Culloden, dem Herzog von Cumberland Weichen mußten; in dem später Frankreichs flüchtiger König Karl X eine Zuflucht fand; und hoch athmete ich auf, als ich draußen die frische Luft der Gegenwart wieder einsog.
Wenige Tage darnach hielt Königin Viktoria auf dem Wege nach Balmoral ihren Einzug in das alte Residenzschloß der schottischen Könige, Prinz Albert und ihre Kinder begleiteten sie. Welch ein Gegensatz der Zeiten nnd der Menschen! Sechszehntes und neunzehntes Jahrhundert! Maria Stuart und Viktoria! R. K.
Eine merkwürdige Kanzel.
In der Kirche von Raddatz, dem alten, unweit Neustettin in Pommern gelegenen Stammsitz derer von Kleist, befindet sich eine Kanzel, welche in feinster Malerei einen weißen Adler, eine Menge türkischer Trophäen, musizirende Knaben, Wappen tragende Genien und allerlei allegorische Figuren zeigt. Das Hauptfeld der Kanzelbrüstung ist aber in gröberen Farben übermalt und zeigt das Kleistsche Wappen: zwei laufende Füchse, dazwischen ein Querbalken. Um das Wappen herum laufen Namen und Titel des Darbringers, des weiland Feldmarschalls von Kleist und die Jahreszahl 1747.
Diesem Kunstwerk hat bei seiner Entstehung niemand vorher gesagt, daß von ihm aus einmal in einer pommerschen Dorfkirche das lautere Evangelium würde gepredigt werden. Es ist nämlich ursprünglich ein Wagen und zwar der Siegeswagen, welchen die Stadt Wien um 3000 Dukaten für den Polenkönig Johann Sobieski nach Errettung der Stadt aus der Türkengefahr 1683 anfertigen ließ. Nach dem Tode des Königs wurde der Wagen in der weiblichen Nachkommenschaft desselben vererbt. Er befand sich zur Zeit des ersten schlesischen Krieges auf einem schlesischen Gute hart an der polnischen Grenze. Beim Herannahen der Preußen wurde er in ein Kloster geflüchtet, fiel ihnen aber zugleich mit dem Kloster in die Hände. Friedrich der Große wollte ihn nach Berlin bringen lassen, der General von Kleist bat ihn aber, den Wagen ihm zu schenken.
„Ich will ihn," sagte der General, „in meiner Heimatkirche als Kanzel verwenden, damit von ihm aus die großen Thaten Gottes verkündet werden."
Friedrich, der den tapfern Mann „wegen dessen ungemeiner Tapferkeit und Bravour" hoch schätzte, gewährte die Bitte, und der Siegeswagen wunderte nach Raddatz.
Der Wagen war nach Art der römischen Siegeswagen gebaut, auf welchen die Sieger, unter einem Baldachin stehend, ihren Triumphzug hielten. Dieser Baldachin ist als Schalldeckel über der Kanzel angebracht. Die Räder, die bis 1806 in der Kirche standen, wurden in dem genannten Jahre von den Franzosen geraubt. Man weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.
Moderner Sklavenhandel.
Wenn von Sklavenhandel die Rede ist, denkt man unwillkürlich an Afrika, und auch die Antisklavereigesellschaften haben meist nur die Neger im Auge. Die Sklaverei ist aber auch in den außerafrikanischen Uferstaaten des Mittelmeeres so tief eingewurzelt, daß selbst die Staaten mit europäischer Kultur alle Mühe haben, den Handel mit ihren Unterthanen zu unterdrücken. So kommt es im südlichen Rußland immer wieder von Zeit zu Zeit vor, daß habgierige Schurken die Noth einzelner Familienväter benutzen, um ihnen ihre hübschen Töchter abznkaufen. Die werden dann mitunter in die centralasiatischen Khanate, meist aber nach Konstantinopel geschafft und dort in die türkischen Harems verkauft. So erhielt z. B. am 6. Juli dieses Jahres die Odessaer Polizei die Anzeige, daß sich an Bord des Dampfers „Kom- bodja" für den Verkauf bestimmte Mädchen befänden. Bei der Untersuchung stellte es sich denn auch wirklich heraus, daß der Jude Abraham Löwensohn, der sich gewerbsmäßig mit dem Export von jungen Mädchen beschäftigt haben soll, zwei junge Jüdinnen mit sich führte, für die er sich falsche Pässe zu besorgen gewußt hatte.
Diebeslichtc.
Vor dem Kreisgericht in Neschin (Gouvernement Tschernigow) ist vor einigen Wochen ein Fall verhandelt worden, der wieder einmal beweist, wie weit verbreitet und unausrottbar gewisse abergläubische Vorstellungen sind. (Vergleiche Daheim XIV. S. 392.) Am 6. April fand man, daß auf dem Kirchhof des Dorfes Scholdki das Grab eines kurz vorher bestatteten Kindes geöffnet und die Leiche der Fleischtheile beraubt worden war. Ein Taschentuch, das auf dem Friedhof liegen geblieben war, führte auf die Spur der Verbrecher, und es erwies sich, daß der Kosak Kant und sein Schwiegersohn Dawbisch die Schuldigen waren. Die beiden lebten des Glaubens, daß aus Menschenfett gegossene Lichte die Wirkung hätten, daß die Bewohner eines Hauses, in welchem Diebe einbrechen, nicht erwachen können. Diese Lichte sollten überhaupt ihre Träger unsichtbar machen.
Die Leichenschänder, welche gewerbsmäßige Diebe waren, hatten denn auch wirklich aus dem geraubten Menschenfleisch bereits das Fett ansgekocht. Man fand es in einem Topf aufbewahrt.
Inhalt: Erkämpft. (Fortsetzung.) Novelle von M. Franck. — Bilder aus den Sevennen. (Schluß.) V. IV. Von A. Ebrard. — Ein Blick auf die Geschichte Cyperns. Von Franz von Löher. — Vor dem Sturm. (Fortsetz.) Historischer Roman von Theodor Fontane. — Am Familientische: Nach Westen. Zu dem Bilde von B. Woltze. — Eine historische Reiseerinnernng. Zn dem Bilde: Rizzio bei Maria Stuart. Von Conräder. — Eine merkwürdige Kanzel. — Moderner Sklavenhandel. — Diebeslichte.
Erschienen:
eutsche Literaturgeschichte
von
Kotiert Vroentg.
II. mit O Zum Theil farbigen Beilagen und 78 Holzschnitten im Text. H
Diese II. Abtheilung geht bis Goethe und Schiller. Mit der III. Abtheilung, welche bestimmt im Laufe des Lserbstes erscheint, wird das Werk abgeschlossen sein und dann einen stattlichen Band von ca. 4P Bogen mit zahlreichen Farbendrucken und Abbildungen im Text zum Preise von Mark bilden. Wir dürfen die Leser dieses Blattes mit gutein Gewissen auf dies Werk aufmerksam machen, welches den Lieblingsstoff der Nation in durchaus neuer anregender Weise behandelt. Für die Pausbibliothek wie für Geschenkzwecke wird man kaum ein passenderes Buch finden.
Die Verlagshandlung des Daheim: Velhagen A Wgsing in Bielefeld und Leipzig.
Herausgeber: vr. Robert Koenig und Uheodor Kermann Rantenius in Leipzig. Für die Redaktion verantwortlich Htto Klasing in Leipzig. Verlag der Iaheiur-Krpeditio« (Kechagen L Klastng) in Leipzig. Druck von.ZL. H. Uenbner in Leipzig.