707
den Namen „Spitzkrug" führte. Es war dies der vorerwähnte Aussichtspunkt, weshalb denn auch Vitzewitz halten ließ. Ein dreieckiger, durch die drei Straßen gebildeter Garten lag vordem Hause; hier stellten sich unsere Freunde auf und sahen, über einen Heckzaun hinweg, auf das reliefartig vor ihnen liegende Bild. Bamme hatte den Blick überall, und erkannte gleich, daß dies der Punkt sei, der für alle Fälle gehalten werden müsse.
„Hier stellen wir unsere Soutiens," sagte er. „Ueber den Spitzkrug geht unser Rückzug. Die drei Wege hier lassen uns die Wahl, und verwirren den Feind."
„Warum Rückzug?"
Bamme lachte. „Ein gesicherter Rückzug ist der halbe Sieg. Wer vorwärts will, muß mit dem Gedanken an ein mögliches Rückwärts beginnen. Weiß ich, daß ich wieder heraus kann, so geh ich dem Beelzebub in seinem Allerheiligsten zu Leibe. Fragen Sie Hirschfeldt, der kennt den Krieg."
Während dieser Worte hatte Bamme sein Notizbuch genommen, und begann die verschiedenen Straßen einzuzeichnen. Als er damit fertig war, auch noch nach dem Namen einer zu Füßen gelegenen kleinen Vorstadtkirche gefragt hatte, sagte er zu Vitzewitz: „Und diese Bergnase hier, die nach der Stadt zu vorspringt?" — „Das ist der Galgenberg."
„So, so. Und die Straße, die von hier aus daran vorüber läuft?"
„Das ist die Richtstraße. Muthmaßlich, weil sie von der Stadt her zur Richtstätte führte. Ein Rest von den drei Pfeilern ist noch zwischen den Kirschbäumen sichtbar."
„Lassen wir die Pfeiler, Vitzewitz," sagte Bamme. „Ich bin für eine gesicherte Rückzugslinie, aber wenn es sein kann, an anderen Oertlichkeiten vorüber. Erst die Sottmeiers und nun der Galgenberg und die Richtstraße, das hat freilich alles seinen Zusammenhang. Aber ich bekenne, weniger Folgerichtigkeit und mehr Heiterkeit wäre mir lieber. iölomsn st ornsn. Ich bin abhängig von solchen Sachen und geh' ihnen gern aus dem Wege. Brechen wir ab; ich habe mich orientirt."
Sie stiegen nun wieder auf und fuhren bergab in die
Vorstadt hinein, erst an der kleinen Sankt Georgskirche und dann an dem gleichnamigen Spitale vorüber. Eine einzige lange Straße. So kamen sie nach zehn Minuten bis an den Brückendamm, der, wo die Alt- oder Innenstadt beginnt, wenigstens damals noch über einen breiten, wenn auch ausgetrockneten Wallgraben hin auf das alte Lebuser Thor zuführte. Unmittelbar vor diesem Thore buchtete sich der Brückendamm zu einem kleinen winkligen Platze aus, auf dem, in die Ecke geschoben, ein paar zweiräderige aber starkgebaute Karren standen. Daneben lagen eiserne Kanonenrohre, alle rostig, ein paar zerbrochen, als ob sie, von der Kunersdorfer Schlacht her, hier liegen geblieben wären. Bamme merkte sich alles. Dann passirten sie das gewölbte, noch aus den Zeiten der Stadtbefestigung herstammende Thor, hinter dem sich die große Thorwache befand. Der Posten vorm Gewehr schritt auf und ab, und sah die Vorüberfahrenden neugierig freundlich an, als ob es ihnen einen Gruß bedeuten solle.
„Ein Glück für ihn," sagte Bamme, „daß er morgen Abend ab gelöst ist, und nicht mehr an dieser Stelle schildert. Ein hübscher Junge, und grüßt uns so freundlich. Es sollte mir leid inn ihn sein."
Hundert Schritte hinter der Thorwache zweigt nach links hin eine schmale Straße ab. Sie führt auf den Fluß zu, aber ehe sie denselben erreicht, erweitert sie sich zu einem Kirch- platze, auf dem sich grau und thurmlos die älteste Stadtkirche erhebt. Ist man an dieser vorbei, so gewahrt man, wie der Platz sich wieder verengt und abermals Straße wird. Aber nur zwei, drei Häuser zu jeder Seite. Und dann ist man am Quai. In einem dieser Häuser wohnte Turgany. Berndt hatte die Zügel genommen und fuhr vor. Es war ein großes altes Eckhaus, mit vorspringendem Erker und einem prächtigen Blick auf Platz und Quai. Ein rechtes Aussichtshaus. Berndt, als er angeordnet, daß Krist ausspannen und entweder bis an den Spitzkrug, oder besser noch bis an einen alten, schon vorher am Ausgange der Lebuser Vorstadt gelegenen Gasthose znrück- fahren solle, stieg mit Bamme die breite Steintreppe hinauf, während Grell und Hirschfeldt folgten. (Fortsetzung folgt.)
Am Aamilientisme.
Nach Westen.
(Zu dem Bilde auf S. 697.)
Die Zeit, in der alljährlich viele tausende unserer Landsleute „hinüber" gingen, ist vorüber, und der volle Strom der Auswanderer ist zu einem nur noch spärlich rinnenden Bach ansgetrocknet. Ob das zu unserem Glück ist, bleibe dahin gestellt, jedenfalls ist man zur Zeit allgemein dieser Meinung. Aber auch die wenigen Ketzer, welche der Ansicht sind, daß eine starke Auswanderung für die Gesundheit eines so dicht bevölkerten Landes wie Deutschland unentbehrlich ist, werden ergriffen, wenn sie sehen, wie ein Greis im Begriff ist, der Heimat, in der er geboren wurde und sein bestes Leben lebte, den Rücken zu kehren und hinüber zu wandern in ein Land, in dem er doch nie heimisch werden wird. Und nun erst die Greisin! Mit welchem Schmerz mag sie Abschied genommen haben von den heimischen Fluren, dem trauten Dorf, an das sich alle ihre Erinnerungen knüpfen! Was mag nur den Alten fortgetrieben haben ans dem heimischen Thal? War es ein verlorener Prozeß, dessen Ausgang der Trotzkopf nicht verwinden konnte, oder dürfen wir annehmen, daß ihm im fernen Kalifornien ein Sohn lebt, der die Eltern und die Schwester zu sich rief? Er scheint die Pacifiebahn, die große Heerstraße nach San Francisco zu suchen. Ist dem so, dann wird vielleicht das Lachen der Enkel ihm den Gesang der heimischen Vögel ersetzen; dann wird auch die Tochter einmal Wurzel schlagen im Westen, und am Gestade des großen Weltmeeres Hüterin deutscher Sitte sein.
Eine schottische Reiseerinnerung.
(Zu dem Bilde auf S. 705.)
Von all den geschichtlichen Erinnerungsstätten, an denen Schottlands Hauptstadt, das romantische Edinbnrg, so reich ist, hat mich immer Holy - rood am meisten angezogen. VomRegentRoad sah ich es zum ersten Male, und ich werde den Anblick nie wieder vergessen. Da lag es zu meinen Füßen, öd' und still, fast versunken im Schatten der Salisburyfelsen, die neben und über dem eisgrauen Königspalast riesenhoch in die Lüfte ragen. Ein Viereck von hohen Mauern und kegelförmig zngefpitzten Thürmen ist Holyroodhaus keine architektonische Schönheit, nur die Ruinen der nordöstlich daranstoßenden, viel älteren Abteikirche können darauf Anspruch machen. Aber massenhaft gedrungen und ernst im- ponirend ist der altehrwürdige Bau, um den sich ein reicher Kranz historischer und poetischer Erinnerungen wie immergrüner Ephen rankt.
In den niedrigen, engen und trüben Gemächern des nordwestlichen Flügels, der alle Stürme der Zeit in seiner ursprünglichen Gestalt überdauert hat, während der übrige Ban von Karl ll erneuert ist, lebte, liebte und litt die schöne „Hnssn of LsotLZ jeder Schritt erinnert an ihr selbstverschuldetes unglückliches Loos.
Ich hatte im ersten Stock die einst von Lord Darnley bewohnten Räume besichtigt und stieg nun die Wendeltreppe hinauf, die zu Maria Stuarts berühmter Wohnung führt; ein unheimliches Gefühl überkam mich, es waren dieselben Steinstnfen, welche einst des Königs Mord- genossen leisen Schrittes hinanfgeschlichen waren. Mein Führer öffnet eine Thür — wir stehen in der Königin Schlafgemach. Ein kleiner düsterer Raum — alles sieht verkommen und verfallen ans, als ob der Schatten seiner Geschichte darüber wehmüthig brütete. Das einst so prächtige Lager mit seinen jetzt zerschlissenen Pnrpurvorhängen und verblichenen grünseidenen Fransen, auf dem die schöne Schottin geruht haben soll, ächzt vor Altersschwäche, wenn man ihm nahe tritt; schwarze Sessel stehen umher; ein kleiner Korb, ein „ANKs ä'ainitis" Elisabeths, in dem einst Jakobs I Kinderzeug gelegen hat, steht daneben. Elisabeth selbst, Marias stolze Gegnerin, blickt ans einer Ecke des Zimmers herab — ihr Bildniß ist auch eines der Geschenke, welche zwischen den später so feindlichen Königinnen ausgetanscht wurden.
Und nun hebt der Führer eine Portiere, auf der eine verschossene Stickerei noch Spuren von Phaetons verwegener Fahrt erkennen läßt, und durch eine schmale niedrige Thür treten wir in „Hnssn Nar/s snzopinA room", das Eßzimmer, in welchem am 9. März 1566 die blutig grause That anhub, an welche unser Bild erinnert. Ein kleines Kabinet — etwa zwölf Fuß ins Gevierte — in dem die Verschworenen ihres Opfers durchaus sicher waren. Hier war kein Entkommen möglich, nicht einmal Platz zum Widerstande. Wie leer und öde sah jetzt das Zimmer aus! Zerrissene und verfallene Reste von Vorhängen bewegen sich leise, als die Thür aufgeht - - nahe dem Fenster liegt der weiße Marmorblock, auf dem Maria bei ihrer Vermählung mit Darnley kniete; eine Vorstufe zu jenem andern Block, auf dem sie einundzwanzig Jahre später in Fotheringay ihr Haupt niederlegen mußte. Auf dem Tische liegen Waffenstücke, die Darnley einst getragen haben soll.
Der Akt der Gewaltsamkeit, der hier sich abspielte, tauchte vor meiner Phantasie auf. Conräder hat ihn mit einiger künstlerischer Freiheit dargestellt, denn wie Leopold Ranke in seiner „Englischen Geschichte" zuverlässig erzählt, hatte Darnley an Marias Seite