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Tubal trat an den Stein heran und las: „Katharina von Gollmitz."
„Ja, das war ihr Name."
„Lassen wir den Namen," sagte Tubal, „was soll er uns? Was sollen uns die Tobten?"
„Doch, doch, Sie müssen von ihr Horen. Sie war die Freundin eines dermaligen Fräulein von Bitzewitz, den Vornamen Hab ich vergessen, nehmen wir an, daß sie Renate hieß."
„Nicht Renate."
„Ja, nehmen wir an, daß sie Renate hieß. Und ihre Freundin, eben diese Katharina von Gollwitz, deren Grabstein hier vor uns steht, die starb hier und wurde hier begraben. Aber das todte Fräulein hatte Sehnsucht in ihre Heimat und wollte fort von hier und aus dem fremden Grabe wieder heraus."
„Ich glaube es nicht."
„O, Sie müssen es glauben, denn es ist wahr und es weiß es jedes Kind hier. Und immer, wenn das Fräulein von Vitzewitz über diesen Grabstein hinschritt, der damals noch mit den andern Steinen im Mittelgange lag, dann hörte sie, wie die Freundin rief: „Renate, mache auf!"
Tubal lächelte.
„Und so rufen auch wir jetzt; nicht wahr?"
„Nicht ich."
„Doch, Sie müssen es auch rufen, denn so gemahnt uns der Grabstein. Und an was uns die Grabsteine mahnen, auch wenn sie stumm sind, das müssen wir thun."
„Ja; nur nicht heute, nicht in dieser Minute. Wir leben, Marie."
„Aber wie lange noch," antwortete diese.
Tubal stutzte. Es war etwas in dem Wort, das ihn getroffen hatte. Aber er entschlug sich des Eindrucks wieder und sagte: „Lassen wir die Grabsteine."
Und damit schritten sie wieder in den Mittelgang der Kirche zurück.
Als sie die vordersten Bänke beinahe erreicht hatten, unterbrach Tubal das lange Schweigen und sagte mit weicherer Stimme: Nicht wahr, Marie, wir wollen gute Kameraden sein? Das Schicksal hat uns hier zusammengeführt. Ist es nicht, als ob wir einander gehören sollten?"
„Nein, nicht wir.... Aber horch, ich höre Stimmen." „Welche?"
„Ich weiß es nicht."
„Nicht unsere Stimmen, Marie, nicht Ihre, nicht die meine?"
„Nein, Renatens."
Sie betonte den Namen und er fühlte wohl weshalb. Aber außer sich ergriff er jetzt ihre Hand und sagte mit rasch k sich steigernder Heftigkeit: „Renate und immer wieder Renate.
^ Wozu, was soll es? Ich bitte Sie, nur jetzt nicht diesen Namen; j ich mag ihn nicht hören. Er will sich zwischen uns stellen,
! aber er soll es nicht. Nein, nein, Marie!" Und er warf sich
! nieder und umklammerte sie, während er sein glühendes Gesicht an ihrem Kleide barg.
Da wurde es von außen her laut, der Schlüssel drehte sich im Schloß und gleich darauf erschien der alte Jeserich Kubalke und kam zwischen den Chorstühlen langsam die Fliesen herauf.
„Nichts für ungut, junger Herr. Aber mit einuudachtzig da hat man keine Augen mehr, und da habe ich Sie denn gefangen gesetzt. Und zwei schmucke Gefangene, das muß ich sagen; ja, ja, Marie."
Beide hatten unter dieser Begrüßung ihre Ruhe wieder gewonnen und erzählten nun dem Alten, daß sie die Zeit ansgenutzt und die großen Grabsteine gelesen hätten, auch den von der Gollwitz.
„Auch den von der Gollmitz. Ja, ja, das war das Fräulein, das nicht hier bleiben wollte. Ja, das muß mau lesen. Aber die jungen Leute ihnen es nicht und wenn sie es thun, so denken sie nichts dabei. Ja, die Grabsteine. . . ."
So plaudernd waren sie wieder bei dem Ansgange der Kirche angekommen.
„Vater Kubalke," sagte Marie, „wir haben denselben Weg."
Tubal trat an sie heran und bot ihr die Hand, wie zum Zeichen, daß Friede zwischen ihnen sein solle. „Es war ein Traum."
Sie schüttelte den Kops.
Dann nahm sie den Arm des Alten, der die letzten Worte kaum gehört, am wenigsten beachtet hatte und stieg mit ihm einen der schmalen Pfade hinab, die von dem Kirchhügel aus auf die Mitte des Dorfes zusührten.
IAH. Die Rekognoszirungssahrt.
Um eben diese Zeit trabten die Ponies über Hohen-Ziesar auf Frankfurt zu.
In Podolzig selbst erfuhren unsere Freunde, daß vor kaum einer halben Stunde die vordersten Staffeln der am Tage vorher heranbeorderten Bataillone eingetroffen seien, und gleich darauf wurden sie verschiedene Gruppen von Landsturinmännern gewahr, die, von Alt und Jung umstanden, allerhand Fragen stellten und beantworteten. Einen Augenblick erwog Berndt, ob er absteigen und zu den Leuten sprechen solle; er unterließ es aber, um nicht abermals die wenigen noch bleibenden Tagesstunden gekürzt zu sehen.
Das nächste Dorf war Clessin. Auch hier ließen sich Erregung und Unruhe — der Ausruf war eben verlesen worden — deutlich wahrnehmen, und nur in Eliestow, in dem eben zu Mittag geläutet wurde, war alles still. Hier saßen die Sperlinge zu Hunderten auf dem Fahrdamm, unschlüssig, ob sie auffliegen sollten; und nichts als der sonnenbeschienene Rauch, der hell und gradlinig aus den Essen stieg, deutete ans Leben.
Und nun lag auch Eliestow zurück. Der Weg stieg in leiser Schrägung an und eine reizende Scenerie begann sich mehr und mehr zu erschließen.
Ueber das weit nach rechts hin gebreitete Plateau waren zahlreiche Gehöfte ansgestreut, während nach links hin das ganz in der Tiefe liegende, nur von Kropfweiden eingefaßte Oderthal sich schlängelte. Und in eben dieser Tiefe, keine halbe Stunde mehr von unseren Reisenden entfernt, stieg jetzt auch die Stadt selber herauf, deutlich erkennbar an dem geknpferten Hut der Oberkirche und den vielen goldenen Kugeln, die wie Butterblumenknospen das grüne Spitzdach umstanden.
„Ich zähle sieben Kirchen," sagte Bamme, der ans einer Art Eigensinn nie zuvor in Frankfurt gewesen war. „Es scheint eine große Stadt, größer als ich dachte."
„Der eigentliche Kern ist klein," antwortete Berndt. „Aber die Vorstädte strecken sich weit hinaus. Sehen Sie drüben die Dammvorstadt, fast eine Stadt für sich. Und dahinter Kunersdorf, blutigen Schlachten-Angedenkens. Hier auf unserer Seite des Flusses sind wir friedlicher. Die lange Häuserlinie dort unten ist die Lebnser-Vorstadt; aber ich will Sie nicht vor der Zeit mit solchen Einzelheiten behelligen. Vom Spitzkrug aus haben wir das alles viel deutlicher und sehen den Sott- meiers in die Schornsteine hinein."
„Den Sottmeiers?" fragte Bamme.
„Ja, hier dürfen wir sie noch so nennen."
„Was ist es damit?"
„Eine von den Neckereien und Fehden, wie sie zwischen „AUstadt" und „Neustadt" überall zu Hause sind. Ob es paßt, ist gleichgiltig, wenn es nur reizt und böses Blut macht. Und das thut es. Ein altes Weib, nicht viel besser als eine Hexe, steckte vor hundert Jahren die ganze Vorstadt hier unten in Brand. Sie hieß Wittwe Sottmeier und wurde mit sechs oder sieben ihrer Complicen auf den Scheiterhaufen gestellt. Feuer für Feuer; das war damals noch die Regel. Seitdem werden alle Kietzer nach dem übelberufenen alten Weibe genannt, und heißen „Sottmeiers". Eine sonderbare Logik, erst den Schaden und dann den Schimpf. Aber ob logisch oder nicht, es gefällt den Altstädtern, und so bleibt's beim Alten."
Unter diesen Gesprächen waren sie bis an ein weißgetünchtes Wirthshaus mit hohem Strohdach gekommen, das, an der Spitze dreier hier zusammentrefsender Straßen gelegen,