Heft 
(1878) 46
Seite
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sehr sich Frau Römers sonst so verschlossenes Wesen in der Sorge und Angst um ihn gemildert hatte; aber seine Zärtlichkeit und Freundlichkeit hatte etwas, das eher die Thronen des Mid leids, als die der Freude, in die Augen der beiden Frauen trieb. Sie suhlten den guten Willen überall durch, ohne die Macht zu besitzen, den Stein sortzuwälzen, der ihn niederdrückte.

An das alles dachte Louise, als sie, die Hände in dem Schoße gefaltet, träumerisch hinaus schaute. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie es kaum bemerkte, als die Thür sich öffnete, und erst aufblickte, als sie die Schritte des Dieners hörte, der ihr einen soeben angekommenen Brief überreichte.

Römer mußte denselben durch die offenstehende Gartenthür gesehen haben, denn er rief Louise zu sich und fragte fieber­haft erregt:Ist der Brief von Deiner Freundin aus West­preußen? Setze Dich zu mir und lies ihn mir vor, denn Du weißt, wie sehr ich mich nach Nachrichten von Otto sehne/'

Louise nahm eine Fußbank und setzte sich an seine Seite; war sie es doch gewohnt, ihm stets die wöchentlichen Berichte von Gertrud vorzulesen. Seit sie aber die Wahrnehmung ge­macht hatte, daß sich seine innere Erregung nach Eingang dieser Briefe nur steigerte, las sie dieselben nur mit Zittern und Zagen vor. Und doch waren Gertruds Briese so hübsch und innig, und sie meldete nur Gutes.

Mit einer Treue und Kindlichkeit verstand sie all die klei­nen hübschen Züge des frischen Kinderlebens zu berichten, daß man beim Lesen derselben wähnte, den Knaben in Fleisch und Blut vor sich zu haben. Daneben verabsäumte sie nicht, ihrer Freundin ein kleines Bild ihrer eigenen Häuslichkeit zu ent­werfen, erging sich in schlichten einfachen Worten, in Schilde­rung des Friedens, der überall da herrsche, wo jeder im Hause gesonnen sei, den andern glücklich zu machen; berichtete, wie sie mehr denn je sich der häuslichen Geschäfte annehme, mit Otto musizire und seinen Unterricht mit Hilfe des Pfarrers leite. Sie schloß meist mit dem Wunsche, Louise möge in ihrer Um­gebung auch den Frieden empfinden, der nicht im äußeren Schimmer, sondern einzig und allein im eigenen Herzen ruht.

Es gehörte Louisens vollständige Unkenntniß des Ver­hältnisses zwischen Gertrud und Römer dazu, um diese Briefe mit jener Unbefangenheit vorznlesen, wie es geschah. Louise ahnte nicht, daß die Worte mehr an ihn als an sie gerichtet waren, und daß die Erregung in Römers Zügen weniger auf die Stellen über Otto als auf diejenigen zu schieben war, die bekundeten, daß Gertrud mit aller Macht gegen die Wünsche ihres Herzens ankämpfte, und in treuer Erfüllung ihrer Pflichten Ersatz suchte für den herben Verlust, den sie erlitten.

Heute war ihr Brief inniger denn je. Louise hatte ihr den bevorstehenden Abschied gemeldet, und sie, der sie ja ihr ganzes Herz geöffnet hatte, wohl tiefer in ihren Schmerz blicken lassen, als es bisher geschehen war.

Lies die Stelle noch einmal," sagte Römer bewegt, als Louise geendet hatte.

Da sie glaubte, er meine diejenige, welche von Otto han­delte, begann sie:

Gestern haben Dein Otto und ich einen wundervollen Spaziergang gemacht. Wir hatten Jasch mitgenommen, um einen Fichtenbaum umzuhauen, der am Rande des Waldes steht. Otto folgte jedem Axthieb, und ich bemerkte, wie sein liebes herziges Gesicht wie wird er Dir doch von Tag zu Tag ähnlicher! ordentlich traurig wurde.

Warum läßt Du den Baum umhanen, Tante?" fragte er mich endlich.Es wäre ein schöner Weihnachtsbaum für mich geworden; o, Dp. glaubst nicht, wie viel prächtige goldene und silberne Sterne Mama an meinen Weihnachtsbaum hängt, daß er blitzt und flimmert wie tausend wirkliche Sterne."

Ich schlang meinen Arm um Ottos Hals und ging mit ihm tiefer in den Wald.

Den Baum lasse ich abhauen," sagte ich,weil es mich jedes Mal wehmüthig stimmt, zu sehen, wie er sein ganzes Leben lang verurtheilt ist, so getrennt von seinen Brüdern zu stehen. Sieh, wir Menschen haben es so viel besser als die Bäume, wir können hingehen wohin wir wollen, und es liegt nur an uns, uns die Liebe unserer Mitmenschen zu verdienen.

Wer einsam im Leben dasteht wie jener Baum, der ist selbst daran Schuld."

Lächle nicht, liebe Louise, daß ich mit dem achtjährigen Kinde so. ernste Sachen verhandele. Dein Otto ist eben anders als andere Kinder, man merkt aus allem, was er deukt und thut, daß er eine Mutter gehabt hat, die es verstand, seinen geistigen Blick zu schärfen und ihm die Kindlichkeit und frische Heiterkeit zu bewahren, indem sie selbst mit ihm zum Kinde wurde. Ich hatte mich daher auch nicht getäuscht. Otto dachte länger an den abgehauenen Baum, als es ein anderes Kind gethan hätte. Als wir bald darauf auf einem Baumstumpf saßen und Brot und Birnen verzehrten, die die liebe Großmutter uns mitgegeben hatte, sagte er sehr ernst: Tante Gertrud, ich bin kein solch einsames Bäumchen, ich habe Mama, Onkel Ernst und Dich," und dabei schlang er seine Aermchen um meinen Hals und sah mich mit seinen, Deinen Augen so treu und innig an, wie Du es so oft in jenen unvergeßlichen Tagen an seinem Krankendettchen gethan hast. Ich gab ihm recht; er suchte dann hervor, daß auch ich Vater, Mutter, Großmutter, Dich und ihn habe, und wir schwatzten lange von Dir und seinem Onkel Ernst. Sehr- glücklich schlugen wir dann singend den Heimweg ein.

Und nun zu Dir, meine herzliebe Louise, und zu Deinem großen Kummer. In der tiefen Innigkeit, in der ich ihn mit Dir fühle, in der Art, wie ich Deine Angst und Sorge theile, wie mich Dein liebes Bild seit Empfang Deines Briefes weder bei Tag noch bei Nacht verläßt, fühle ich recht, daß es die lauterste Wahrheit meines Herzens ist, wenn ich Dir zurufe: Dein Glück ist mein Glück!" Ich bete zu Gott, daß er die schweren Wolken, die jetzt Deinen Horizont trüben, verscheuchen möge, und es ist nur seit gestern, als wenn eine Stimme mir zuriese:Sei getrost, Gertrud, Dein Gebet wird erhört!" Das gebe Gott! Schreibe recht, recht bald wieder, womöglich so­fort, nachdem Du diesen Brief gelesen Haft, denn mein Herz sehnt sich doppelt nach Nachricht von Dir, da ich Dich so tief inner­lich leidend und kämpfend weiß."

Die letzten Worte hatte Louise fast unhörbar gelesen, das erste Mal hatte sie schon bei den Worten:Dein Glück ist mein Glück!" geendet, jetzt aber hatte Ernsts Auge so fragend auf dem ihrigen geruht, daß ihr eine neue Täuschung nicht möglich war.

Sie hatte geendet und senkte das Haupt. Es war ihr unmöglich, den sprechenden Augen jetzt zu begegnen, nun, da ihr ganzes theures Geheimniß klar und offen vor ihm lag.

Eine minutenlange Pause entstand, dann hob Römer- Louisens Kopf in die Höhe und sagte mit weicher, von ihr s o nie gehörter, bewegter Stimme:Was wirst Du antworten, Louise? Wirst Du Deiner Freundin schreiben, daß es mein innigster Herzenswunsch ist, Dir jeden inneren Kampf zu er­sparen? Daß hinfort Dein Glück mein Glück sein soll? Willst Du mein Weib werden, Geduld mit meinen"

Weiter konnte er nicht sprechen. Louise war aufgesprungen, schlang beide Arme um seinen Hals, und zum ersten Mal ver­einigten sich wieder ihre Lippen zu einem Kuß, der mehr sagte als der Kuß zwischen Bruder und Schwester.

Hoho, sind die Leutchen schon so weit?" ertönte plötzlich die heitere Stimme des alten Geheimraths, der mit ein Paar- Sätzen die Treppe zur Veranda heraufsprang und Ernst und Louise kräftig die Hände schüttelte.Nun ich gratulire von ganzem Herzen," und sich an Frau Römer wendend, die ihm gefolgt war, fügte er triumphirend hinzu:Habe ich nicht recht mit meiner Behauptung, daß in der Liebe Ihres Sohnes zu jenem kleinen Frauchen, das da thut, als könne es nicht bis zwei zählen und dabei das größte Einmaleins schlagfertig im Kopf und Herzen hat, der Haken liegt, daß seine Kräfte nicht zunehmen? Sie wollten mich vom Gegentheil überzeugen und haben eine ganze Stunde lang da im Garten mit mir herum disputirt, aber nun? Sehen Sie doch gefälligst Ihren Herrn Sohn einmal an ist das noch der Duckmäuser, der vor einer Stunde die Flügel hängen ließ wie ein angeschossener Falke?"

Frau Römer hatte auf diese Aufforderung nicht gewartet. Ihr Mutterauge hatte sofort nach dem Betreten der Veranda den